Paradoxe Geschichte

Warum das Versagen von Christen ermutigend sein kann

Viele Christinnen und Christen aus der Vergangenheit sind anderen zu Vorbildern im Glauben geworden. Ihre Botschaft, ihre Standhaftigkeit, ihr Leben ermutigen Menschen bis heute. Doch was ist, wenn sich plötzlich herausstellt, dass diese Vorbilder keine «weisse Weste» haben? In gewisser Weise können sie dann noch mehr ermutigen.
Billy Graham (Bild: billygraham.org)

Corrie ten Boom, Augustin, Janusz Korczak, Billy Graham, Martin Luther… Wie hat es der Schreiber des Hebräerbriefs ausgedrückt? «Soll ich noch mehr aufzählen? Die Zeit würde nicht ausreichen, um von … zu erzählen» (Hebräerbrief, Kapitel 11, Vers 32). Viele Christen haben Biografien solcher Menschen im Bücherregal stehen. Und damit eine helle Geschichte des Christentums voller Liebe und Licht, Engagement für Menschenrechte und Mission, Bildungsoffensiven und Mitgefühl.

Aber was geschieht, wenn sich plötzlich herausstellt, dass die 196 Seiten einer solchen Biografie nicht den ganzen Menschen gezeigt haben? Gut, das wissen eigentlich alle, aber manchmal zeigt sich eben, dass das strahlende Vorbild Schattenseiten hatte, die man nicht ignorieren kann. Martin Luther war nicht nur der visionäre Reformator, sondern verfasste untragbare Schmähschriften gegen Juden. Jonathan Edwards war nicht nur ein wichtiger US-Theologe, sondern «nebenbei» auch Sklavenhalter. Auch diese Liste liesse sich fast beliebig verlängern.

Problemfelder

Extremreaktionen sind in solch einer Situation nicht besonders hilfreich. Natürlich könnte man so tun, als wäre nichts gewesen, doch das ist nicht ehrlich. Oder man könnte das ehemalige Vorbild einfach zum schlechten Beispiel degradieren, aber das wird der Vielschichtigkeit des Lebens auch nicht gerecht. Tatsächlich entstehen laut dem britischen Theologen Andrew Wilson folgende Problemfelder:

  • Glaubwürdigkeit: Wenn Gott real ist und seine Nachfolger sind Licht der Welt und Salz der Erde, dann sollten sie es eigentlich besser hinbekommen.
  • Auswirkungen: So wie gute Aktionen Segensspuren hinterlassen, hat auch Fehlverhalten Folgen, die oft lange anhalten.
  • Theologie: Christen heute stehen in den Fussstapfen von anderen, die sich unmöglich verhalten haben, und die zahlreichen Splitter in den Augen der Vorfahren bedeuten, dass es in heutigen Augen noch einige Balken geben muss.

Lernfeld Demut

Eins ist klar: Fehlverhalten gibt es nicht nur im christlichen Umfeld. Aber da kommt es eben auch vor – und leider gar nicht so selten. Wenn Christinnen und Christen das ignorieren, geraten sie leicht in Selbstüberschätzung und Triumphalismus. Wenn sie dann vom «Sieg im Herrn» sprechen, klingt zwischen den Zeilen heraus: «Mir kann das nicht passieren.» Und ohne damit gleich für alles persönlich verantwortlich zu sein, ist es hilfreich, auch Zwangstaufen und Hexenverfolgung als Teil der eigenen Geschichte zu akzeptieren, ohne sie damit irgendwie gutzuheissen. Das demütigende Ergebnis ist dann, dass das Reich Gottes tatsächlich da schon beginnt, wo seine Liebe Gestalt gewinnt, aber oft auch im Unfertigen, im «noch nicht» steckenbleibt.

Lernfeld Kultur

Manche Christen tun so, als wären Kultur und Zeitgeist etwas, das sie nicht beträfe. Doch gerade die genannten Beispiele oben zeigen, wie sehr wir alle Kinder unserer Zeit sind. Das soll Fehlverhalten nicht entschuldigen, aber es ist hilfreich beim Einordnen. Aus heutiger Sicht ist es nicht nachvollziehbar, dass ein Christ wie Charles Studd seine kranke Frau samt Kindern in England zurückliess, um für Jahre als Missionar nach Afrika zu gehen. Aber es war eine andere Zeit. Zukünftige Generationen werden in vielen Punkten kopfschüttelnd vor uns stehen und sagen: «Aber das wusstet ihr doch. Wieso habt ihr nicht…»

Lernfeld Gnade

Es ist gar nicht so einfach, mit diesen Spannungsfeldern umzugehen. Aber die Bibel gibt uns viele schrecklich-gute Beispiele dafür. Da ist die Rede von Streit, Verrat und Enttäuschungen, ohne sie im Nachhinein schönzureden. Und mittendrin auch immer wieder von Gottes Versorgen und Segen. Tatsächlich ist es keine Überraschung, dass Christen heute nicht besser sind als Gottes Nachfolger früher. Wenn das als Selbstentschuldigung gilt, ändert sich daran nicht viel. Aber wenn es zur echten Einsicht führt, dass Gläubige auch nur begnadigte Sünderinnen und Sünder sind, dann können sie mit neuer Hoffnung in den Spiegel schauen, weil Gott Ja zu ihnen gesagt hat. Und ihre Umgebung wird sie als ermutigend und echt wahrnehmen – und nicht als Heuchler.
 

Datum: 02.11.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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