Ein Evangelium für Starke!?

Halten unsere Gemeinden leidende Menschen noch aus?

Liegt persönliches Wohlergehen tatsächlich in der Hand des einzelnen? Der Theologe Manuel Schmid nahm Stellung zu sieben Thesen von Johannes Hartl. Grund für eine Diskussionsrunde bei Livenet. Leider reagierte Johannes Hartl selbst nicht auf die Einladung zum Livenet-Talk, aber die Theologen Manuel Schmid und Dan Schmid liessen sich auf die Diskussion unter Moderation von Florian Wüthrich ein.
Starker Mann
Manuel Schmid
Dan Schmid

Johannes Hartl: «Schau in den Spiegel. Du siehst den Menschen, der für Dein Leben verantwortlich ist.»

Manuel Schmid ist Theologe bei RefLab, einer Diskussionsplattform der Reformierten Kirche Zürich. In dieser Funktion griff er im Blog «Das Evangelium für die Starken» sieben Thesen auf, welche der beliebte deutsche Philosoph und katholische Theologe Johannes Hartl aufgestellt hat. Die daraus entstandene Diskussion, wurde von Livenet aufgenommen. Weiterer Gesprächsgast war Dan Schmid, Theologe und Lead Pastor der Celebrate Life Church Stuttgart und Heilbronn.

Motivations-Slogan aus der Ecke menschlicher Machbarkeit

Die Lehre von der Kraft des positiven Denkens hat unsere Gesellschaft durchdrungen. Seit Jahren beschäftigt es Manuel Schmid, wie auch christliche Gemeinden dieses Gedankengut aufnehmen. Dass jetzt Johannes Hartl in seinen Thesen den Menschen für sein Ergehen verantwortlich macht, gab Anlass zur Reaktion. Eine von Hartls Thesen lautet: «Was Du heute bist, ist die Frucht der Entscheidungen, die Du in den letzten Jahren getroffen hast.»

Zu Beginn des Gesprächs hält Manuel Schmid fest: «Grundsätzlich halte ich die Theologie von Johannes Hartl für ausgewogener als das, was er in den sieben Thesen vermittelt.» Damit scheint er recht zu haben, denn Hartl selbst bedankte sich auf RefLab für den offenen Diskurs und wies darauf hin, dass seine Thesen nicht den Anspruch auf Ausgewogenheit hätten. Damit ist klar, dass der Livenet-Talk keine Bewertung von Johannes Hartl ist, auch wenn das Gespräch durch dessen Thesen angestossen wurde.

Wahrheit besteht oftmals aus Ausgewogenheit

Dan Schmid signalisiert Verständnis für Manuel Schmids Anliegen, will aber die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass der Mensch tatsächlich für sein Tun verantwortlich ist und dieses Konsequenzen nach sich zieht. «Es wäre jetzt interessant, Johannes Hartl bei uns zu haben und von ihm zu erfahren, was er mit seinen Thesen genau gemeint hat.» Dan Schmid hält fest, dass Thesen vom Wesen her oftmals einseitig sind. Das zeigt sich schon daran, dass er selbst Hartls Thesen nicht gleich ernst bewertet wie Manuel Schmid.

Über das Säen und Ernten

Das Prinzip vom Säen und Ernten ist Grundlage für Aussagen wie «Was du leidest, hast du verschuldet». Für Manuel Schmid sollte dieses Prinzip niemals undifferenziert angewendet werden. «Das Beispiel von Hiob zeigt uns einen gerechten Mann, der ohne eigenes Verschulden leiden musste. Seine Freunde taten ihm unrecht, indem sie im Denken vom Säen und Ernten verhaftet blieben.» Dan Schmid glaubt ebenfalls, dass wir mit dem Prinzip von Säen und Ernten vorsichtig umgehen sollten, ergänzt aber auch, dass Hiob am Ende seines Lebens dann doch empfangen hat, was einem gerechten Menschen gebührt. «Ich glaube, dass unser letztes Kapitel aber erst im Himmel geschrieben wird.» Damit eröffnet er für Leidende eine ganz neue Perspektive.

Über Stolz und Selbstgerechtigkeit

Die theologische Leidenschaft von Manuel Schmid ist offensichtlich. Er spricht einerseits die Selbstgerechtigkeit erfolgreicher Menschen an und andererseits die Situation von unverschuldet Leidenden. Bei beiden sollte nicht davon ausgegangen werden, dass sie ihre Situation verdient haben. «Thesen, die den unschuldig am Boden Liegenden den letzten Tritt geben und gleichzeitig Stolz und Selbstgerechtigkeit bei Menschen nähren, die sich im Glanz des Lebens sonnen, kann ich nur vehement entgegenhalten.»

Das Gespräch blieb an dieser Stelle kurz und praktisch. Es ist klar, dass in einem einstündigen Gespräch nicht grundlegende Themen wie die Kraft der Sünde oder die Existenz eines freien Willens in ihrer Tiefe besprochen werden können. Die Gesprächspartner schienen sich in grundlegenden theologischen Ansichten grösstenteils einig zu sein, was ihnen ermöglichte, schnell auf die Praxis zu sprechen zu kommen.

Ertragen Gemeinden noch leidende Menschen?

Manuel Schmid hat leidende Menschen im Blick. Solche, die Ungerechtigkeit erlitten haben und schuldlos leiden. Eine schwerkranke Person kann mit Slogans, welche auf die Machbarkeit des Menschen zielen, wenig anfangen. «Wird hier nicht ein Evangelium für Starke vertreten?», fragt er.

Ein längerer Teil des Gesprächs galt dann der Frage, wie weit unsere Gemeinden unglückliche Menschen überhaupt noch aushalten können. Wie weit ist die Gemeinde ein Ort für leidende und unglückliche Menschen? Dabei zitierte Moderator Florian Wüthrich den Reflab-Blog von Manuel Schmid über den «Zwang zum Glück». Dort fordert Schmid die Gemeinden heraus: «Wieviele Freundschaften, wieviele Ehen, wieviele Gemeinschaften halten es noch aus, dass jemand tiefunglücklich sein kann, ohne dass die Person gleich bearbeitet, mit Ratschlägen und Postkartenweisheiten 'beglückt' oder durch den Hinweis auf die Wichtigkeit professioneller Hilfe vom Leib gehalten wird?»

«Unsere Kultur kann schlecht mit Leidenden umgehen»

Das Solidarisieren mit Leuten, die zerschlagen und am Boden sind, sei laut Manuel Schmid in vielen Gottesdiensten heute verloren gegangen. «Scheinbar fühlen sich Leute in einer Lebenskrise einfach nicht mehr wohl in unseren Gemeinschaften und ziehen sich deshalb zurück», beobachtet Schmid. Dies weise auf eine Kultur hin, die schlecht mit Leidenden umgehen kann.

Dan Schmid sieht hier ebenfalls Defizite. Er selbst habe genug von einem Entertainment-Christentum und einer Social-Media-Kultur, in der Christen nur stets ihre Sonnenseite zeigen. «Wir brauchen gute, tragfähige Freundschaften.» Trotz teilweise unterschiedlichen Sichtweisen war sich die Gesprächsrunde einig, dass die Gefahr eines «Machbarkeits-Evangeliums» im Auge behalten werden muss.

Den Talk in voller Länger anschauen:
 

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Datum: 28.08.2020
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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