Fragen an einen Religionssoziologen: Warum ist der Glaube so oft ein Tabu?

Alfred Dubach, Leiter des Schweizerischen Pastoral-soziologischen Instituts in St. Gallen, beobachtet eine Trendwende hin zum öffentlichen Glaubensbekenntnis.

Die Hälfte der Leute redet nicht einmal mit ihrem Lebenspartner über Religion. Das stellt der Religionssoziologe Alfred Dubach fest. Doch er beobachtet eine Trendwende.

Herr Dubach, Glaube ist zum Tabu geworden.
Alfred Dubach: Das trifft zweifellos zu. Die Mehrheit der Leute findet es recht schwierig, über ihre persönliche Religiosität zu reden.

Lässt sich das wissenschaftlich belegen?
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass knapp die Hälfte der Leute nicht einmal mit ihrem Lebenspartner über Religion redet. Religion wird als sehr private Angelegenheit empfunden. Gemeinschaftliche Formen von Religionsausübung haben in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Gleichzeitig wird aber im stillen Kämmerlein gebetet.

Nach dem 11. September haben Sie aber eine "Eruption von Religion" beobachtet. Das ist doch ein Widerspruch?
Nein. Bei Schicksalsschlägen, Todeserfahrungen und bei Brüchen im Leben kommt Religion auch heute noch zum Tragen. Es ist der Alltag, in dem Religion keine dominante Rolle mehr spielt.

Viele Tabus sind gefallen. Warum wird da gerade der Glaube zum Tabu?
Die Zeit der Aufklärung wirkt bis heute nach. Für die Denker dieser Epoche ist Religion nicht vereinbar mit modernem Denken. Moderne Werte wie Freiheit und eigenverantwortliche Lebensführung wurden nicht mit den Kirchen, sondern gegen sie erkämpft.

Esoterische Angebote erleben Zustrom. Demnach ist Religion doch kein Tabu.
Die Beobachtung ist zwar richtig: Man besucht Kurse, liest Bücher, sucht bei ganz verschiedenen Quellen Halt und Orientierung. Aber das ist eine rein private Angelegenheit.

Warum diese Tabuisierung in der Öffentlichkeit?
Dies hat auch zu tun mit einer religiösen Sprachlosigkeit. Viele Leute sind von ihrer Erziehung her gewohnt, das zu wiederholen, was ihnen kirchliche Autoritäten vorgegeben haben. Persönlich mussten sie sich nie Gedanken machen. Ihnen fehlen die Worte und die Übung, über religiöse Erfahrungen zu reden.

Wenn ein gläubiger Mensch zum Tabubrecher werden will - wie müsste er vorgehen?
Die Kirchen müssten die Leute viel stärker ermuntern, ihre Bedürfnisse ins Spiel zu bringen. Kirchen sollten die Leute auch dazu ermuntern, Gott in ihrem eigenen Leben zu erfahren, zu erspüren und darüber zu reden.

Kennen Sie vielversprechende Modelle?
Besonders die neureligiösen Bewegungen machen solche Sachen: Sie fördern das In-sich-Hineingehen, wollen Gott in sich selber entdecken. So versuchen sie, ihre Alltagswirklichkeit in einer Dimension zu hinterfragen, die über das Sichtbare hinausgeht. Im kirchlichen Bereich wird ihnen demgegenüber viel mehr vordoziert.

Im evangelischen Sektor haben die Alphalive-Kurse Erfolg. Stillen sie ähnliche Bedürfnisse?
Ja. Dort können die Teilnehmer sich selber und ihre Sorgen zur Sprache bringen. Darin liegt die Attraktivität solcher Angebote.

Wohin geht der Trend?
Das Tabu, über Religion zu reden, ist noch da. Tief im kollektiven Bewusstsein herrscht immer noch das Grundgefühl vor, dass sich Religion und Modernsein nicht vertragen. Trotzdem glaube ich, dass Leute zunehmend das Bewusstsein bekommen: "Ich kann modern sein und zugleich religiös." Seit den 90-er Jahren berichten auch die Medien zunehmend über Religion. Der Religiöse wird heute nicht mehr nur als Ewiggestriger angeschaut. Ich glaube, gerade in den Medien erleben wir eine Trendwende.

Dr. Alfred Dubach 64, hat in Paris, Rom und Fribourg Theologie und Soziologie studiert. Seit 1984 leitet er das Schweizerische Pastoral-soziologische Institut (SPI) in St. Gallen, welches von der römisch-katholischen Kirche getragen wird. Das SPI erforscht und analysiert das religiöse Leben.

Datum: 05.05.2004
Quelle: Chrischona Magazin

Werbung
Livenet Service
Werbung