Wenn
irgendeine Person in der Advents- und Weihnachtszeit regelmässig «unter die
Räder» kommt, dann ist das Maria. Von den einen wird sie verklärt, von den
anderen fast ignoriert, aber oft wird sie völlig falsch gesehen. Mit der Folge,
dass ihre verfälschte Darstellung seit Jahrhunderten als verbogenes Vorbild für
christliche Frauen dient. Schauen wir doch einmal genauer hin…
Die Geburt des Messias, dargestellt im Jesus-Film «Son of God».
Ein strahlender Engel bricht in ein einfaches Haus
ein. Verschüchtert und mit niedergeschlagenen Augen steht ein blondes,
vielleicht 12-jähriges Mädchen in der Zimmerecke und hört die himmlische
Botschaft: Du wirst ein Kind bekommen. Demütig ergibt sie sich in ihr
Schicksal. Was bleibt einem gläubigen Mädchen auch anderes übrig?
Zugegeben, die obige Verkündigungsszene ist etwas
zugespitzt. Aber nicht sehr. Denn Kunstgeschichte und Tradition scheinen sich
fast einig zu sein: Maria ist nicht nur ein junges Mädchen (so weit, so
richtig!), sondern auch gläubig, demütig, naiv, sich unterordnend.
Marias
Geschichte
Es ist spannend, diese ganzen Vorurteile und
Traditionen einmal zur Seite zu legen und zu schauen: Was sagt die Bibel denn
wirklich über Maria? Und wovon ist vielleicht gar keine Rede? Die meisten
Informationen über Jesus' Mutter finden wir bei den Evangelisten Lukas und
Johannes. Selten steht sie dabei im Zentrum des Berichtes, doch was die Bibel
über sie sagt, zeigt das Bild einer nachdenklichen, selbstbewussten,
entscheidungsfreudigen und realistischen Frau.
Marias
Begrüssung
Maria erfährt durch einen Engel von Gottes Plan für
sich. Gabriel spricht sie dabei folgendermassen an: «Sei gegrüsst, du
Begnadigte! Der Herr ist mit dir, du Gesegnete unter den Frauen!» (Lukas,
Kapitel 1, Vers 28) Mit
dieser Anrede zeigt der Himmelsbote ihr nicht in erster Linie, wie gering sie
ist, sondern im Gegenteil: Er ehrt sie. Das wird nirgendwo begründet. Aber es
hat wohl kaum etwas mit einer «unbefleckten Empfängnis» von Maria selbst zu
tun. Die Bibel jedenfalls weiss nichts davon.
Stattdessen beschreibt Lukas sie
im anschliessenden Gespräch und in ihrem Tun als mutig, risikobereit und
gerechtigkeitssuchend. Unterwürfigkeit? Fehlanzeige. Gnade ist keine
Unterwerfung. All dies unterstreicht Maria ein paar Zeilen weiter durch ihr
Loblied, in dem sie das Geschehene Revue passieren lässt: Im «Magnificat» (Lukas,
Kapitel 1, Verse 46–55) fasst
sie ihre Erwartung in prophetische Worte.
Maria
fragt zurück
Aber ist Maria durch die Engelserscheinung und die
Worte von Gabriel nicht zu Tode erschreckt? Natürlich begrüsst sie den Engel
nicht mit einem lockeren: «Ach, du bist’s schon wieder…». Mit ihrem Schrecken
befindet sie sich allerdings in guter Gesellschaft. Auch Gideon, Jakob, Jona
und harte Männer wie die Hirten in der Weihnachtsgeschichte bekamen erst einmal
einen gehörigen Schrecken, als Gott sie ansprach. Doch Maria bleibt nicht dabei
stehen. Sie hat Fragen – und äussert sie selbstverständlich: «Was ist das für
ein Gruss?» (Vers 29) und «Wie kann das sein, da ich von keinem Mann weiss?»
(Vers 34). Marias Fragen sind kein Ausweichen. Sie fragt, um zu
verstehen: Warum ausgerechnet ich? Was ist meine Aufgabe, meine Berufung? Wie
sieht das ganz praktisch aus? Welche Folgen hat das für mich und meine
Umgebung?
Interessant ist hierbei etwas, das nicht dargestellt
wird. Frauen kommen zwar in der Bibel vor, doch viele werden den Lesern
innerhalb ihrer typischen Rollen vorgestellt: Rahel beim Schafehüten, Bathseba
beim Baden, Sara beim Backen im Zelt und Martha beim Arbeiten in der Küche. Und
Maria? Sie wird nie durch irgendwelche hausfraulichen Tätigkeiten beschrieben,
sondern sehr oft durch ihr Fragen und Denken. Zum Beispiel mit den bekannten
Worten: «Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen» (Lukas,
Kapitel 2, Vers 19).
Maria
trifft ihre eigenen Entscheidungen
Dazu passt es gut, dass der Engel überhaupt zu Maria
kommt. Wir haben uns traditionell daran gewöhnt, doch eigentlich ist so etwas
untypisch. Wir reden immerhin von einer Zeit, in der Mädchen wie Maria durch
ihre Väter verheiratet wurden. Selbst hatten sie dabei nicht viel mitzureden.
Doch der Engel klärt ihre Berufung weder mit den Priestern noch mit ihrem
Vater, sondern mit ihr selbst. Und die persönlich angesprochene Maria trifft
eine Entscheidung: Ich bin dabei!
Sie weiss nicht, was alles auf sie zukommen wird,
aber sie erahnt ein breites Spektrum zwischen Schwierigkeiten (ein uneheliches
Kind) und Segen (ein Herrscher, der sich um die Hungrigen kümmern wird). Und
sie wird recht behalten.
Die Bibel deutet nur an, wer Maria war, aber das
wenige zeigt eine Frau, die entschlossen ist, kein Heimchen am Herd; die frei
ist, nicht naiv; die heilig ist, nicht hilflos; die stark ist, nicht
unterwürfig. Diese Maria blickt nicht tatenlos zu Boden. Sie ist bereit, sich
von Gott gebrauchen zu lassen und setzt sich für seine Gerechtigkeit ein. Dazu
ruft sie bis heute alle Frauen auf – und nicht nur Frauen.
Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckart drückte
dies einmal folgendermassen aus: «Wir sind dazu berufen, Mütter Gottes zu
werden, denn Gott wartet immer darauf, zur Welt gebracht zu werden.»