Seit
einer Weile fügen manche Bibelübersetzungen beim Passus «liebe Brüder» auch die
«Schwestern» hinzu. Eine überfällige Ergänzung. Allerdings ist das echte Frauenbild
des Neuen Testaments viel positiver als sein Klischee. Denn schon in
urchristlichen Zeiten spielten die Frauen eine wichtigere Rolle als viele
Männer wahrhaben wollen.
Ein Beispiel dafür sind etliche Frauen, die im Neuen
Testament genannt werden. Tabitha, Lydia, Junia und etliche andere sind hier
typische Beispiele. Sie kommen im Neuen Testament vor und werden mehr oder
weniger ausführlich beschrieben, spielen aber in der Theologie kaum eine Rolle.
Tabitha
– die Jüngerin
Jünger ist meist ein männlicher Begriff. Aber er
wird eins zu eins auf Tabitha angewandt. Die Christin aus dem heutigen Jaffa
wurde von Petrus auferweckt, nachdem sie gestorben war. Das Neue Testament
stellt klar, dass sie «reich [war] an guten Werken und Wohltätigkeit, die sie
übte» (Apostelgeschichte, Kapitel 9, Verse 36-43).
Tabitha half Menschen in ihrem Umfeld. Robin Gallaher Branch stellt klar: «Durch die gesamte Apostelgeschichte bleibt Tabitha stumm. Lukas spricht
für sie.» Der Evangelist nennt sie beim Namen als Tabitha oder Dorkas und
unterstreicht damit ihren Dienst unter aramäischen und griechischen Christen.
Und er bezeichnet sie aufgrund ihres Glaubens bzw. Engagements als Jüngerin.
Lydia
– die Unternehmerin
Luther übersetzt ihren Beruf als Purpurkrämerin. Das
hört sich mit heutigen Ohren an wie eine Hobbybeschäftigung. Doch dies liegt
weit neben der Realität. Purpur war einer der wertvollsten Stoffe überhaupt, und
Lydia handelte damit. Sie war im heutigen Verständnis eine Top-Unternehmerin in
Thyatira. Eine Geschäftsfrau für Luxusgüter. Sie kam mit ihrem gesamten
Haushalt zum Glauben. «Und eine gottesfürchtige Frau namens Lydia, eine
Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; und der Herr tat ihr das Herz
auf, sodass sie aufmerksam achtgab auf das, was von Paulus geredet wurde. Als
sie aber getauft worden war und auch ihr Haus, bat sie und sprach: Wenn ihr
davon überzeugt seid, dass ich an den Herrn gläubig bin, so kommt in mein Haus
und bleibt dort! Und sie nötigte uns» (Apostelgeschichte, Kapitel 16, Verse 14-15).
Tatsache ist, dass Lydia als erste Christin Europas geradezu eine
Schlüsselstellung einnimmt. Obwohl sie «nur» eine Frau ist, wird sie
stellvertretend für ihren gesamten Haushalt genannt. Sie ist diejenige, die das
Geld verdient, und gleichzeitig öffnet sie sich für den christlichen Glauben.
Junia
– die Apostelin
Noch etliche andere Frauen werden im Neuen Testament
genannt, bis hin zu Junia. Im Römerbrief wird sie nur kurz in einem Gruss
erwähnt: «Grüsst Andronicus und Junias, meine Verwandten und Mitgefangenen, die
unter den Aposteln angesehen und vor mir in Christus gewesen sind» (Römer, Kapitel 16, Vers 7). Wird
hier Junias (ein Mann) oder Junia (eine Frau) angesprochen? Scheinbar wird hier
eine Frau als Apostelin bezeichnet. Tatsächlich erklärt die aktuelle
Lutherbibel zusammen mit vielen anderen: «Wahrscheinlich lautete der Name
ursprünglich (weiblich) Junia. In der alten Kirche und noch bis ins 13.
Jahrhundert wurde er als Frauenname verstanden» (Wikipedia).
Mit seinem abschliessenden Gruss im Römerbrief erklärt Paulus damit ganz
nebenbei, dass Frauen damals in Gemeinden Leitungsfunktionen innehatten.
Die
Frauenfrage
Wer heute auf die traditionell christliche Rolle der
Frau schaut, die immer noch hauptsächlich ihre Unterordnung propagiert, vergisst
leicht, dass die frühe Gemeinde extrem attraktiv für Frauen war. Der
Religionssoziologe Rodney Stark
weist darauf hin, dass die Stellung von Frauen im jüdisch-christlichen Kontext
bedeutend besser war als im griechisch-römischen. Dort herrschte starker Männerüberschuss: In Rom kamen auf 100 Frauen 131 Männer. In
Italien, Kleinasien und Nordafrika kamen sogar auf 100 Frauen 140 Männer. Diese Disbalance rührt von der Praxis her,
ungewollte Mädchen zu töten oder auszusetzen.
In der frühen Kirche dagegen sah die
Relation ganz anders aus. Frauen erhielten hier eine für diese Zeit besondere Wertschätzung.
Christliche Frauen hatten einen besseren Stand in der Familie: Sie litten viel
weniger unter Scheidung, Polygamie, Inzest und anderen gesellschaftlichen Auswüchsen,
die für Christen tabu waren. Als Witwen hatten sie ihre eigene Würde und wurden
nicht zur Wiederheirat gezwungen. Als erwachsene Frauen konnten sie sich für
oder gegen die Ehe entscheiden und einen Partner wählen.
Dies unterschied sich deutlich von den Frauen im
Römischen Reich, die sehr oft schon mit zwölf Jahren verheiratet wurden und dann
bereits Kinder bekamen. Christliche Frauen hatten auch einen guten Stand in der
Gemeinde – jedenfalls bis zum fünften Jahrhundert. Dort hatten sie ihre
Aufgaben bis hinein in Diakonie und Leitung.
Tabitha, Lydia, Junia & Co sind typisch für
Frauen in der christlichen Gemeinde. Sie passen vielleicht nicht ins gängige
christliche Klischee, aber sie unterstreichen deutlich den Stellenwert, den
Frauen bei Jesus und auch in den ersten Gemeinden hatten. Damals war die Kirche
mit ihrem Frauenbild ein echter Trendsetter.