Nichts Neues: "Judas-Evangelium" ohne Aufschlüsse über Zeit Jesu

Judas-Evangelium
Craig A. Evans

Das so genannte Judas-Evangelium enthält keine Informationen über Leben und Wirken von Jesus Christus. Der Text spiegle die frühchristliche Geschichte des zweiten Jahrhunderts wider, sagte der kanadische Neutestamentler Craig A. Evans am Donnerstag in Washington bei der Vorstellung des Dokuments durch das Magazin "National Geographic".

In der Handschrift wird die Rolle des biblischen Verräters Judas bei Jesu Tod positiv umgedeutet. Der Urtext stammt von Anhängern der so genannten Gnosis, einer Irrlehre am Rand der frühen Kirche, die Gottes Herrschaft auf die geistige Welt beschränkt sah.

Koptisches Manuskript

Fachleute äusserten sich zurückhaltend zum historischen Wert des Papyrus. Wie der Augsburger Kirchenhistoriker Gregor Wurst in Washington betonte, steht noch nicht fest, ob der in koptischer Sprache verfasste Text identisch mit dem verschollenen griechischen Judas-Evangelium ist. Vor diesem hatte der Kirchenvater Irenäus von Lyon um 180 nach Christus in seinem Buch "Gegen die Häresien" gewarnt.

Wurst, der das nun vorgestellte Dokument mit dem Genfer Koptologen Rodolphe Kasser übersetzte, schreibt in der deutschen Mai-Ausgabe von "National Geographic", der Verfasser des "Judas-Evangeliums" habe provozieren wollen. Gegenüber den biblischen Evangelisten beschreite er den "Weg der vollständigen Negation".

"Gnostische Umwertung" lange bekannt

Der Heidelberger Theologe Klaus Berger sagte auf Anfrage, in der gnostischen Literatur sei es üblich, alle negativen Aspekte der Bibel ins Positive zu wenden. Diese "gnostische Umwertung" sei in der Wissenschaft bereits lange bekannt. Auch nach Ansicht des Berliner Handschriftenexperten Hans-Gebhard Bethge enthält der Text wahrscheinlich keine neuen historischen Erkenntnisse über das Leben Jesu oder seiner Jünger. Es sei klar, dass er den "vier biblischen Evangelien nicht den Rang ablaufen" werde. Grosse Bedeutung habe das Dokument aber wahrscheinlich für seine Wirkung in der frühen Kirche. Es werde auf jeden Fall unser Wissen über das Phänomen "Gnosis" bereichern".

Judas – der treueste Jünger Jesu?

Nach Angaben von "National Geographic" wird in dem dialogisch abgefassten Text behauptet, der Verräter Judas sei in Wahrheit der treueste Jünger Jesu gewesen und habe ihn auf dessen eigenen Wunsch an die Obrigkeit ausgeliefert. Er habe ihm zwar den Tod gebracht, ihm aber zugleich einen Gefallen getan. In einer Passage des Manuskripts sagt Jesus zu Judas: "... du wirst sie alle übertreffen. Denn du wirst den Menschen opfern, der mich kleidet." Auch habe er dem Jünger vorausgesagt, dass dieser wegen seiner Tat verflucht werde. Der 13-seitige Text endet mit den Worten "Evangelium" und "Judas".

Von Ägypten in die Schweiz

Zusammen mit weiteren Schriften war das Dokument Ende der 1970er Jahre nahe der Stadt El-Minya in Mittelägypten wiederentdeckt worden. Das insgesamt 66-seitige Konvolut in einem Ledereinband mit den Massen 16 mal 29 Zentimeter enthielt auch den Brief des Petrus an Philippus sowie eine Apokalypse des Jakobus, die bereits aus dem bedeutenden Handschriftenfund von Nag Hammadi bekannt sind.

Das Fragment eines unbekannten vierten Textes wurde von den Forschern vorläufig "Book of Allogenes" genannt. Als Entstehungszeit des Manuskripts wird die Zeit von 220 bis 340 nach Christus angegeben. Die Handschriften gelangten über Kairo, Genf und New York nach Basel und dort zur Maecenas-Stiftung für antike Kunst. Vom Text des "Judas-Evangeliums" konnten rund 80 Prozent gerettet werden.

"Kein Anlass für einen Freispruch"

In dem Beitrag für "National Geographic" warnt Wurst zugleich vor Spekulationen um angeblich unterdrückte historische Wahrheiten über Jesus und Judas. Selbst ernannte Experten wie der Autor des Bestsellers "Sakrileg", Dan Brown, würden sich davon allerdings wohl kaum abhalten lassen, so der katholische Kirchenhistoriker. Zu erwarten sei dabei nur "schlecht recherchierte Fiktion". Der Judas dieses neuen Evangeliums habe mit der geschichtlichen Figur nicht viel mehr als den Namen gemein. Der Text gebe keine Antwort auf die Frage, was den historischen Judas gegen Jesus motiviert habe. Es gebe "keinen Anlass für einen Freispruch", so Wurst.

TV-Dokumentation in 163 Ländern

Die Präsentation des Fundes und seiner Restaurierung war mit grossem medialen Aufwand angekündigt worden. Der TV-Sender von "National Geographic" will am Sonntagabend eine zweistündige Dokumentation in 163 Ländern der Welt präsentieren. Bereits vor einem Jahr hatte das Magazin "Focus" in grosser Aufmachung über das "Judas-Evangelium" berichtet und dabei die vermeintliche Enträtselung der wahren Motive des Jesus-Verräters verkündet. Mehrere Forscher hatten dem widersprochen. Die Fachwelt werde die Publikation des Kodex dennoch mit grosser Dankbarkeit aufnehmen, sagte Bethge. Das "Judas-Evangelium" werde die wissenschaftlichen Kenntnisse über das Phänomen "Gnosis" bereichern und neue Einblicke in ein bisher unbekanntes Segment der frühchristlichen Apokryphen ermöglichen.

Datum: 08.04.2006
Quelle: Kipa

Werbung
Livenet Service
Werbung