Lehrreich und ärgerlich: ARTE-Serie übers frühe Christentum

Carsten Peter Thiede
C.P. Thiede erläutert ein Fragment der Tempelrolle aus Qumran.

"Credo" hiess vor einigen Jahren eine französische Sendereihe im Kultursender ‘Arte’, die etwas Ungewöhnliches wagte: die Entstehung des christlichen Glaubens nicht wirklich filmisch zu zeigen, sondern ausschliesslich in einer stundenlangen Abfolge von redenden Köpfen. Von Bibelforschern aus verschiedenen Ländern, die an Tischen sitzen, ihre Thesen vortragen und gelegentlich aus der Bibel vorlesen.

Nun hat ‘Arte’ eine Fortsetzung erstellt, zehn Teile über "Die Geburt des Christentums". Die letzten vier Teile laufen an diesem Wochenende (Freitag- und Samstagabend). Mit wenigen Ausnahmen sind es die gleichen Fachleute, die von Jérôme Prieur und Gérard Mordillat befragt werden; man freut sich über das Wiedersehen mit dem grossen Tübinger Gelehrten Martin Hengel und geniesst die gelungene Schnittechnik, die es so wirken lässt, als redeten die insgesamt 23 Forscher wirklich miteinander in einem offenen Dialog.

Juden und Christen – in der ersten Zeit

Positiv wirkt auch, wie sorgsam hier mit den Wechselbeziehungen zwischen Juden und Christen in neutestamentlicher Zeit umgegangen wird. Die Äusserungen sind von gegenseitiger Rücksichtnahme und dem Willen geprägt, manche Fehler der Kirchengeschichte auszuräumen. Da unter den Debattierenden kein klassischer Philologe ist, fällt nach einer Weile allerdings auf, dass eine sprachlich genaue Untersuchung dessen, was die Texte tatsächlich sagen und meinen, weitgehend ausbleibt.

Insgesamt überwiegt leider die Enttäuschung. Ein Beispiel: Die Folge "Familienstreit", in der es vor allem um Apostelgeschichte Kapitel 6 geht, um den Konflikt zwischen den aramäischen Judenchristen und den nichtjüdischen, griechischsprachigen Christen.

Theologen als Besserwisser –1900 Jahre danach

Alle Befragten sind mehr oder weniger der gleichen Meinung, subtile Unterschiede fallen nur Fachleuten auf, und die arglosen Zuschauer müssen oder sollen den Eindruck bekommen, als hätte die heutige Forschung im Grunde genommen das gleiche Bild von den Zuständen in Jerusalem: dass Lukas (falls er überhaupt der Verfasser seiner Apostelgeschichte ist) ein manipuliertes Bild entwarf, dass man jetzt entschlüsseln und korrigieren müsse.

Schliesslich seien diese Texte alle erst lange nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels entstanden. Von der Apostelgeschichte wird gesagt, gegen die Erkenntnis der Geschichtswissenschaft, sie sei erst "ein halbes Jahrhundert" nach den Ereignissen aufgeschrieben worden, während sie in Wirklichkeit zu Lebzeiten von Männern wie Jakobus, Petrus und Paulus veröffentlicht wurde. Die neutstamentliche Forschung dreht sich hier seit langem im Kreis und scheint wenig geneigt zu sein, neue Impulse aufzunehmen.

Lukas war nahe dran

Wer die Forschung in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, weiss dagegen, dass sich vor allem in den angelsächsischen Ländern - deren Vertreter in der ‘Arte’-Reihe kaum vorkommen - die Dinge zunehmend anders entwickeln. Aber auch im deutschsprachigen Europa darf man sagen und schreiben, dass es wirklich einen Lukas gab, der sein Evangelium in einem vorzüglichen Griechisch selbst schrieb, und dass er es vor 62 n.Chr. tat, dem Jahr, in dem Teil 2 seines Werks, die Apostelgeschichte abgeschlossen wurde.

Es ist unter Historikern nämlich kein Geheimnis, dass ein historischer Text nicht jünger sein kann als das letzte einschneidende Ereignis, das er nicht mehr erwähnt. Jakobus, der Bruder von Jesus, wurde im Jahr 62 in Jerusalem angeklagt und umgebracht, wie der jüdische Historiker Josephus berichtet (Petrus und Paulus zwischen 64 und 67 n.Chr.). Von diesen für die Urkirche radikal einschneidenden Ereignissen steht in der Apostelgeschichte nichts; folglich wurde sie vorher veröffentlicht.

Warum die Zerstörung Jerusalems nicht beschrieben ist

Daraus folgt, dass Teil 1, das Lukas-Evangelium, noch älter ist. Von diesen und anderen keineswegs unbekannten Feststellungen zur Entstehung der Evangelien wird bei ‘Arte’ nicht gesprochen. Keines der Evangelien erwähnt trotz der entsprechenden Prophezeiung Jesu auch nur andeutungsweise, dass und wie Jerusalem im Jahr 70 n.Chr. zerstört wurde - woraus immerhin folgt, dass die Evangelien vorher entstanden. Doch diese Tatsache wird in der Fernsehserie nicht zur Diskussion gestellt. Ungeniert wird das Gegenteil behauptet (alle vier Evangelien zwischen 70 und 100 entstanden), als hätte sich in der Forschung der letzten Jahrzehnte überhaupt nichts getan.

Es fällt auch auf, dass hier katholische, protestantische und jüdische Neutestamentler unter sich sind. Einen Historiker oder Altphilologen sucht man unter den Mitwirkenden vergeblich. So gehen falsche Aussagen unkorrigiert durch - zum Beispiel über den angeblichen Verzicht auf die Ehe und auf Kinder, die man in der Erwartung der unmittelbaren Wiederkehr Jesu nicht brauchte.

Unsinnige Behauptungen…

Da wundert man sich, wie es einem der Brüder Jesu, dem Judas, der es ja ganz gut hätte wissen müssen, gelungen ist, Kinder zu zeugen und Enkel zu haben, von denen man in Rom noch am Ende des 1. Jahrhunderts wusste. Ein Professor für Neues Testament an der Universität Cambridge versteigt sich zu einer Behauptung, die jeder Leser der Apostelgeschichte widerlegen kann: der Verfasser habe ein harmonisches, konfliktfreies Bild der Urgemeinde konstruiert.

Kurz: Das Ganze ist all zu oft nur ärgerlich, wissenschaftlich an vielen Stellen überholt und wegen des verführerischen Autoritätsanspruchs eine Zumutung. Mit einem alten Wort: Das Gute daran ist nicht neu, und das Neue daran ist nicht gut.

…rufen nach einer anderen Serie

Lehrreich ist die Serie jedoch für alle, die gern einmal authentisch erfahren wollen, was heute an Hochschulen und Universitäten über Jesus, die frühe Kirche und die Schriften des Neuen Testaments mehrheitlich noch immer gelehrt wird.

Erst wenn ‘Arte’ eines Tages eine Serie über die andere Seite der Forschung bringt - und die gibt es nicht nur unter Altertumswissenschaftlern, sondern zunehmend auch unter Theologen -, wird man sagen können, dass diese Art Fernsehen ein gelungener Weg der Wissensvermittlung ist.

‘Arte’-Dossier zur Serie:
www.arte-tv.com/cache/dossier/de/dossier597965.html

Autor: Prof. Carsten Peter Thiede, Paderborn, ist Literaturwissenschaftler, Historiker und Papyrologe. Er lehrt an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel und an der Ben-Gurion Universität in Beer-Sheva.

Bilder: C.P. Thiede, U.W. Sahm

Datum: 17.04.2004
Quelle: Livenet.ch

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