Vor einiger Zeit badete ich meine drei Kinder. Ich hatte mir angewöhnt, alle drei gleichzeitig zu baden, hauptsächlich um Zeit zu sparen. Ich wusste, dass ich sie irgendwann dazu bringen musste, aus dem Bad zu steigen, aber während sie in der Wanne waren, schien es nicht besonders effektiv zu sein. Johnny sass noch in der Wanne, Laura war schon draussen und steckte in ihrem Schlafanzug. Mallory war aus dem Wasser, aber sie führte einen Freudentanz auf. Der bestand ungefähr daraus, dass sie immer im Kreis herum tanzte und dazu sang: „So ein Tag, so wunderschön wie heute.“ Wenn sie so glücklich ist, dass sie es nicht mehr aushalten kann, wenn sie keine Worte findet, die ihre Begeisterung angemessen ausdrücken können, dann muss sie tanzen, um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Bei dieser Gelegenheit aber ärgerte ich mich. „Mallory, beeil dich!“ Das machte sie auch – und zog ihre Kreise schneller und sang den Text in doppeltem Tempo. „Nein, Mallory, das meine ich nicht! Hör auf mit diesem Herumgehüpfe und komm her, damit ich dich abtrocknen kann. Los, mach schon!“ Daraufhin stellte sie mir eine tiefgründige Frage: „Warum?“ Ja, warum eigentlich? Ich hatte keine Antwort. Ich musste nirgendwo hingehen, hatte nichts Konkretes zu tun, keine Termine. Ich war es einfach gewohnt, mich zu beeilen. Direkt vor mir war Leben und Freude, stand eine Einladung zum Tanz – und ich war dabei, sie zu verpassen. Also stand ich auf und tanzte den Freudentanz mit Mallory zusammen. Sie sagte, ich würde es für einen Mann in meinem Alter ganz gut machen. Als ich später darüber nachdachte, wurde mir bewusst, dass ich meine Zeit in zwei Kategorien einteile. Leben und Warten auf das Leben. Den Grossteil meines Lebens verbringe ich in einem Zwischenstadium: Ich bin auf dem Weg irgendwohin, ich warte, dass etwas beginnt, ich stehe in der Warteschlange, ich warte darauf, dass eine Besprechung zu Ende geht, ich versuche, eine Aufgabe zu Ende zu bringen, ich mache mir über etwas Sorgen, das eventuell geschehen könnte, oder ärgere mich über irgendetwas, was geschehen ist. In diesen Momenten bin ich nicht völlig präsent. Ich bin ungeduldig. Ich schlage – und das ist buchstäblich so – meine Zeit tot. Und damit schlage ich mich selbst tot. Als ich meine Kinder abtrocknete, wollte ich das so schnell wie möglich hinter mich bringen. Was mich davon abhält, Freude zu erleben, ist meine Beschäftigung mit mir selbst. Die Ich-Bezogenheit, die mich davon abhält, mich der Freude anderer Menschen auszusetzen, hält mich auch davon ab, die unzählig vielen kleinen Geschenke wahrzunehmen, die Gott uns jeden Tag macht. Für Mallory sieht das Leben ganz anders aus. Sie lebt einfach. Wenn sie badet, ist das ein Grund zur Freude. Und wenn es Zeit ist, sich abzutrocknen, freut sie sich wieder. Und wenn sie trocken ist, ist Zeit für den nächsten freudigen Moment. Das Leben ist für sie eine Reihe von fröhlichen Augenblicken. Natürlich ist nicht jeder Moment des Lebens glücklich. Es gibt immer noch Situationen, in denen die Tränen fliessen – aufgeschlagene Knie und griesgrämige Handtuchhalter. Aber jeder Augenblick trägt die Möglichkeit zum Feiern in sich. Mallory verpasst nicht viele davon. Sie bringt mir bei, mich zu freuen. Autor: John OrtbergAn Eile gewohnt
Das ständige Warten
Blind für Geschenke
Einfach leben
Datum: 29.01.2006
Quelle: Neues Leben