Ich bin nicht der liebe Gott

Rasur

«Mein Vater liegt im Sterben», berichtet mir eine bis dahin fremde Frau am Telefon. Seine grösste Sorge gelte nun seinem Rebberg, den keiner mehr bebauen möchte. Ich sei seine letzte Hoffnung. Ob ich den abgelegenen Rebberg nicht übernehmen könne, damit ihr Vater ruhig sterben könne...

Als ob ich nicht genügend Reben hätte. Oder sonst zuwenig zu tun. Aber grosszügig wie ich bin, möchte ich helfen. Eine Lösung suchen. Ja, ich habe diese «Gabe der Grosszügigkeit». In Venedig, wo ich in diesen Tagen war, wollte ich jeder Bettlerin das Töpfchen füllen. Gästen, die in Not sind, würde ich am liebsten den Urlaub gratis offerieren. Menschen, die durch die Maschen unseres Sozialstaates gefallen sind, würde ich am liebsten aufnehmen. Und wenn ich mit Freunden unterwegs bin, übernehme ich gerne die Rechnung. Man(n) ist grosszügig. Möchte es zumindest sein. Es tut auch gut, als grosszügig dazustehen. Das gebe ich ja zu. Und ich gebe meiner Frau auch Recht, wenn sie meint, dass uns dies in den Ruin treiben könnte. Überhaupt bin ich froh, dass Regi da etwas aufpasst. Dafür sorgt, dass ich immer noch grosszügig sein kann. Aufgefallen ist mir bei diesem Thema aber etwas ganz Anderes: Gottes Grosszügigkeit ist keine Grenze gesetzt. Seine Liebe, seine Güte – er überschüttet uns total. Seine Vergebung, seine Freundschaft: uneingeschränkt. Ich bin ein Gotteskind. Ein König, Priester und Erbe Gottes. Gottes Grosszügigkeit ist wirklich keine Grenze gesetzt. Und mit diesem Gott darf ich leben. Unterwegs sein. Auch jetzt schon, in diesem begrenzten Leben.

Merken möchte ich mir allerdings: Nicht ich bin der liebe Gott. Ich bin nicht verantwortlich für alle Probleme der Menschheit. Ich möchte nur mit Gottes Hilfe im Rahmen meiner Gaben und Möglichkeiten soziale Verantwortung übernehmen. Und wo ich Grosszügigkeit nur für mein Ego zur Schau stelle, möchte ich sie abstellen...

Ob ich den eingangs erwähnten Rebberg übernommen habe, damit der arme Mann ruhig sterben kann? Habe ich. Obwohl ich es mir nicht leicht gemacht habe. Wesentlicher erscheint mir aber, dass ich ihm noch einige andere Dinge vermittelt habe, die zum ruhigen Sterben wichtiger sind...

Datum: 19.06.2005
Autor: Christoph Gysel
Quelle: Chrischona Magazin

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