Und vergib uns unsere Schuld!

Versöhnung

Das ist Cypriano. Er stammt aus Angola. Mit seinen Eltern und fünf Geschwistern hat er in der Hauptstadt Luanda gelebt. Bis der Bürgerkrieg begann. Glücklicherweise bekam er die Chance, in Brasilien zu arbeiten. Dort erreichte ihn ein Anruf aus Luanda: Cyprianos Vater war ermordet worden. An diesem Tag war für ihn Schluss mit der Welt. Hass, Wut und viele Fragen wühlten in ihm: Warum passiert das ausgerechnet mir?

Aber all diese Gedanken brachten ihn nicht weiter. Sie quälten, fesselten ihn. Inzwischen hatte er erfahren, dass der Mörder seines Vaters ein junger Mann war, den er kannte. Nach angolanischer Tradition lag es nun an ihm, den Tod des Vaters zu rächen. Aber auch dieser Druck machte ihn unfrei. Er sagte sich: Wenn ich jetzt nach Hause komme, den Tod meines Vaters räche, wieder weggehe, was bleibt? Die Rache der Familie unseres Gegners, wieder Streit, vielleicht Tod, eine Spirale ohne Ende.

Als er bei seiner Familie in Luanda war, traf er den Mörder an der Bushaltestelle. Ängstlich und unsicher ging er auf ihn zu, begrüsste ihn, bemerkte das Unverständnis des jungen Mannes. Aber als er dem Mörder die Hand hinhielt, spürte er: Die Vergebung, die Ent-schuldung befreit nicht nur den Täter. Sie befreit auch ihn selbst. Cypriano wird den Mord niemals vergessen können. Aber mit der Vergebung konnte die Verwundung heilen.

An Cyprianos Geschichte muss ich denken, wenn ich ein älteres Plakat betrachte, auf dem steht: „Und vergib uns unsere Schuld(en)". Wer ist schuld? Manche sagen: Nein, unsere Schuld, also die der Reichen, ist es nicht, dass Länder wie Sambia, Argentinien oder die Philippinen so hoch verschuldet sind. Und ausserdem: Wir helfen ja, wir spenden, wir zeigen Mitleid. Das ist ein Gesichtspunkt. Finanzieller Schuldenerlass ist ein guter Anfang. Aber trotzdem ent-schuldigt mich das nicht. Ich stecke drin in der Spirale der Schuld und der Schulden. Ich lebe in einem Wirtschaftssystem, das ausbeutet, zu Lasten der Armen. Ich bin da drin, ob ich will oder nicht.

Jemandem die Schulden erlassen, ihm die Schuld vergeben – geht also nur, wenn ich begreife: Auch ich bin nicht schuld-los, ob politisch, sozial oder in meinem Freundeskreis. Wie oft bleibe ich anderen etwas schuldig.

Ent-schulden beginnt mit ehrlicher Entschuldigung. Und dafür muss ich mich selbst kritisch unter die Lupe nehmen, ob ich mir das Leben leisten kann, das ich führe. Ich möchte mehr besitzen als ich benötige. Ich kaufe gern billig ein und nehme dabei in Kauf, dass die Waren nicht fair gehandelt werden. Und wenn ich manchmal so verletzt bin, dass ich nicht vergeben möchte, ist da mein Egoismus mit im Spiel und meine falschen Erwartungen. Wo ich meinen Anteil an Schuld sehe und dazu stehe, kann ich um Verzeihung bitten.

Und wenn ich erlebe, wie mir vergeben wird, dann kann ich auch vergeben, jemanden ent-schulden, der an mir schuldig geworden ist. Deshalb wohl konnte Cypriano dem Mörder seines Vaters die Hand geben: Er wollte die Spirale von Hass und Rache beenden. Deshalb geht es im Verhältnis der armen und reichen Länder um Schulden und um Schuld. Wer spricht und lebt dieses Gebet noch bewusst? Im Vaterunser heisst es doch: Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Autorin: Regina Räthe

Quelle. ARD

Datum: 27.10.2002

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