Es ist still im Leben von Josephine Lew: Sie ist gehörlos. Trotz dieser Einschränkung hat sie Theologie studiert. In der Pfälzischen Landeskirche vernetzt sie gläubige Gehörlose und baut Brücken in die Welt der Hörenden.
Josephine Lew ist es fast schon unangenehm, dass sich jemand für ihre
Arbeit interessiert. Dabei hat sie Aussergewöhnliches geleistet und als
Gehörlose Theologie studiert. Jetzt kann die Theologin mit dem
Bachelor-Abschluss in der Pfälzischen Landeskirche ihre Berufung leben:
als erste gehörlose Beauftragte für Gebärdenseelsorge.
Die 36-Jährige, die in einer gläubigen Familie aufgewachsen ist, ist
von Geburt an gehörlos. In ihrer Familie ist Lew die einzige Gehörlose.
Aber ihre Mutter engagiert sich als Sozialarbeiterin in der
Gehörlosen-Gemeinde. Diese wird für Lew zum zweiten Zuhause und der
dortige Pfarrer ein Türöffner für ihre Studienpläne.
Denn für theologische Themen interessiert sie sich schon früh. «Ich
wollte gerne vertiefen, was ich bis dahin verstanden hatte.» Nach dem
Abitur macht sie erst eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin, weil
es für ein Studium zu wenig Dolmetscher gibt.
Persönlicher und fachlicher Austausch fehlt
An der Uni Leipzig ist sie erst die dritte hörbehinderte Studentin
überhaupt. Schnell merkt sie, wo das Studium sie an ihre Grenzen bringt.
In vielen Dingen ist sie auf die Hilfe der Verwaltung angewiesen, etwa
um Dolmetscher zu beantragen und bezahlt zu bekommen. Vor allem ihr
Vater hilft ihr dabei, den Aufwand zu bewältigen. «Inhaltlich hat das
alles Spass gemacht. Aber der persönliche und fachliche Austausch mit den
anderen Studenten war sehr schwer», gesteht sie.
Den Stundenplan muss sie danach ausrichten, wann finanzierte
Dolmetscher zur Verfügung stehen. Unter diesen Umständen ist es
unrealistisch, das Pensum hörender Studenten zu bewältigen: «Es ist sehr
kraftraubend, den ganzen Tag nur auf Dolmetscher zu schauen.» Deswegen
hat ihr Studium fast zehn Jahre gedauert.
Jetzt möchte sie das umsetzen, wofür sie brennt: Beziehungen
aufbauen, Menschen Sinnstiftendes anbieten und die biblische Botschaft
weitergeben. Dabei zeigt ihr auch der Arbeitsalltag klare Grenzen auf.
Für Kleinigkeiten oder Behördengänge brauchen sie und andere gehörlose
Gemeindemitglieder oft einen Dolmetscher.
Einfach mal anrufen geht nicht
Sie erlebt, was Immanuel Kant einmal so zusammengefasst hat: Das
Nicht-Sehen trennt von den Dingen, das Nicht-Hören von den Menschen. In
der Pfälzischen Landeskirche ist sie seit April 2021 für Vernetzung
dieser Menschen zuständig. Lew soll Kontakte zu den Gehörlosen-Gemeinden
intensivieren und ihnen bei ihren Problemen helfen. Neben den
regelmässigen Angeboten für Gehörlose möchte sie Brücken in die Welt der
hörenden Gemeinden schlagen.
Die Landeskirche in der Pandemie
kennenzulernen, war gar nicht so einfach. Viele Angebote haben pausiert.
Kürzlich gab es in Kaiserslautern zum ersten Mal seit Langem einen
Gottesdienst für Gehörlose. Der persönliche Kontakt habe sie «sehr
bewegt». In ihrer Landeskirche haben in Ludwigshafen/Frankenthal, Speyer,
Landau, Kaiserslautern und Zweibrücken die grossen Gemeinden insgesamt durchschnittlich 300 Besucher.
Sie feiert Gottesdienste mit den Gehörlosen. Aber die Theologin
möchte noch weitere Angebote etablieren, wo diese sich austauschen
können. Lew schweben Bildungsangebote, aber auch gemeinsame Ausflüge
vor. Ihre Partner sind neben einem schwerhörigen Pfarrer im Saarland die
Gehörlosen-Verbände, der Dachverband der kirchlichen Gehörlosen-Arbeit
(DAFEG) und der katholische Kollege des Bistums.
«Ich erlebe offene Gemeinden»
Natürlich ist sie auch für Wünsche und Ideen der Gemeinden offen. Sie
hat zunächst ein Budget beim Integrationsamt beantragt, aus dem sie bei
Bedarf Dolmetscher einteilen kann. Angestellt ist sie als
Gemeinde-Diakonin. Obwohl sie aus familiären Gründen nur eine halbe
Stelle hat und es viel zu tun gibt, ist sie zuversichtlich: «Ich erlebe
offene Gemeinden», sagt sie, indem sie ihre Hände zu Worten formt –
übersetzt von einer Dolmetscherin.
Die Gehörlosen sollen sich in der Gemeinde wohlfühlen, auch wenn es
im Alltag einige Hürden zu überwinden gibt: «Ich kann zum Beispiel
niemanden schnell anrufen.» Wenn die Zusammenarbeit mit hörenden
Gemeinden intensiviert werden soll, müssten die dortigen Predigten auch
in Gebärdensprache übersetzt werden.
Dass Jesus in der Bibel taube und stumme Menschen heilt, liest sie
mit ganz anderen Augen als Hörende: «Ich bin zwar taub, aber mein Herz
ist offen. Ich kann mich ja mit anderen Gehörlosen ganz normal
unterhalten und empfinde das Taubsein nicht als Einschränkung.» In
Ludwigshafen gibt es sogar einen Gebärdenchor, der bestimmte Lieder mit
Hilfe eines hörenden Dirigenten in Gebärdensprache einstudiert. Ähnliche
Beispiele kennt sie aus Leipzig: «Wir haben den Text inhaltlich für uns
gedeutet und dann in Gebärdensprache übersetzt.»
Gehörlosen fehlt oft der Mut
Lew wohnt mit Mann und Kind, beide gehörlos, in Mannheim. Viele
Gehörlose seien durch ihre Erziehung belastet und ihnen fehle der Mut,
aus sich herauszugehen. «Wir müssen sie stärker befähigen und auf Gottes
Geist vertrauen, dass sie noch offener werden.» Viele sehnten sich nach
einem Austausch, auch weil sie in Gruppen von Hörenden schnell isoliert
sind.
Deswegen ist Lew froh, wenn die gesetzlichen Corona-Bestimmungen
endlich auch Veranstaltungen und persönliche Treffen erlauben. Sie
wünscht sich zudem, dass Hörende und Nicht-Hörende ihre gegenseitigen
Berührungsängste abbauen. Ganz praktisch wäre es, wenn Gemeinden, die
einen Podcast oder Gottesdienste anbieten, selbstverständlich auch eine
PDF-Datei hochladen, damit Gehörlose die Inhalte nachlesen können.
Mit ihrer Biografie möchte Lew andere Gehörlose ermutigen, ebenfalls
Theologie zu studieren. «Aber es braucht Kraft und Durchhaltevermögen,
Steine aus dem Weg zu räumen und bürokratische Hürden zu überwinden.» Und sie ist sicher: Mit Offenheit und Wertschätzung lassen sich
gehörlose Menschen dafür gewinnen, sich trotz und mit ihrer
Einschränkung in der Kirche einzubringen. Lew lässt sich von den ganzen
Hürden auf jeden Fall nicht entmutigen.
Hier können Sie sich ein Video von Josephine Lew mit einem Segenslied in Gebärdensprache ansehen: