Gedanken der EVP-Nationalrätin vor ihrem Rücktritt
Marianne Streiff-Feller (Bild: EVP Schweiz)
Marianne Streiff gibt ihr Mandat als EVP-Nationalrätin Ende
September 2022 an Marc Jost weiter. Für das «Forum Integriertes Christsein» schrieb sie
ihre Gedanken auf, die durch die Weisheit aus Prediger 3 «Alles hat seine Zeit»
beeinflusst wurden.
Am 30. September 2022, nach den Schlussabstimmungen der Herbstsession,
wird Nationalratspräsidentin Irene Kälin die Glocke auf ihrem Pult
erklingen lassen und die Sitzung schliessen. Für mich nach zwölf Jahren im
Nationalrat der letzte Sessionstag. Meine Zeit als Nationalrätin ist
abgelaufen. Ich freue mich auf diesen neuen Übergang in meinem Leben.
Trotzdem keimen die Fragen: Wo wird all das Erlebte bleiben? All die
Erfolge und die Niederlagen, die spannenden Begegnungen und die
spektakulären Ereignisse? Wohin fliesst die Zeit von ganzen zwölf Jahren
engagiertem Einsatz unter der Bundeskuppel? Was bleibt?
Den Weg weitergehen
Da
kommt mir der barmherzige Samariter aus dem Gleichnis im
Lukasevangelium in den Sinn. Für einmal nicht der theologischen Deutung
wegen. Vielmehr wegen seines Umganges mit der Aufgabe, die er unverhofft
übernommen hat: Er legt den Verletzten aufs Maultier, bringt ihn an
einen sicheren Ort zur Betreuung und Pflege und kommt schliesslich auch
für die anfallenden Kosten auf. Und dann geht er wieder seines Weges.
Das ist Nächstenliebe pur.
Was hat das mit meinem Rücktritt zu
tun? Nun, ich bin (trotz meines Samariterherzens) in den letzten zwölf
Jahren im rauen Gewühl der Politik gelandet. Und zwar mit dem Anspruch,
auf der Grundlage der Nächstenliebe, dem Streben nach mehr Gerechtigkeit
und Nachhaltigkeit die Gesellschaft mitzugestalten. Diese Aufgabe habe
ich mit Hingabe erfüllt. Ich kann also getrost aufhören. Und jetzt wie
der Samariter meines Weges gehen.
«Ja schon», sagt mir meine
innere Stimme, «aber da ist doch so viel Begonnenes, Angebrochenes,
Unfertiges, Stückwerk.» Müssen mich diese Gedanken kümmern? Einen guten
Rat dazu finde ich bei Friedrich dem Grossen. «Servir et disparaître»
hiess sein Motto: Dienen und Verschwinden. Und Blaise Pascal, der
französische Mathematiker, Physiker, Literat und christliche Philosoph
fand folgende beglückende Formulierung: «Es ist nicht auszudenken, was
Gott aus den Bruchstücken unseres Lebens machen kann, wenn wir sie ihm
ganz überlassen.»
Morgenbetrachtungen unter der Bundeshauskuppel
Ganz
Gott überlassen möchte ich auch die Auswirkungen und die Bedeutung
einer besonderen Art von Zusammenkünften im Bundeshaus. Seit über 40
Jahren versammeln sich während den Sessionen, jeweils am Mittwoch vor
Sitzungsbeginn, Parlamentsmitglieder und zuweilen auch Gäste im Zimmer
287 des Bundeshauses zu einer zehnminütigen ökumenisch gehaltenen
Besinnung.
Das Mitorganisieren dieser Kurzmeditationen während
meiner Amtszeit war mir stets eine grosse Freude. Und es erfüllt mich
mit Dankbarkeit, dass diese Morgenbetrachtungen lückenlos während
nunmehr über vier Jahrzehnten mit Wort, Stille und Gebet unter der
Bundeshauskuppel ihren festen Platz haben.
Sie passen übrigens
bestens zum Phänomen der «Wertediskussionen» in den Parteien und Räten.
«Eine Wertediskussion wird in der Politik als dringend erachtet – doch
Werte werden eher pauschal deklamiert als reflektiert», schrieb René
Rhinow, emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Universität
Basel, in einem bemerkenswerten Aufsatz in der NZZ vom Dezember 2017. Er
mahnte: «Werte sind in erster Linie zu leben. Sie verkümmern, wenn sie
nicht beachtet werden.»
Bleibendes in der Verfassung
Die
Besinnungen unter der Bundeskuppel waren und sind ein Ort der Achtung
jener Werte, an denen sich die Begründer unseres Bundesstaates
orientiert haben, als sie unsere Verfassung im Namen des Allmächtigen
beschlossen.
Und es ist erfreulich, dass dieser Einstieg in unsere
Verfassung auch nach meiner Zeit stehen bleibt. Eine Parlamentarische
Initiative hatte in der Sommersession 2022 verlangt, in der Präambel der
Bundesverfassung die Aussage «im Namen Gottes des Allmächtigen» zu
streichen und das Wort «Schöpfung» durch «Umwelt» zu ersetzen. Dies,
weil die Anrufung eines christlichen Gottes der Religionsfreiheit
widerspreche und angesichts der zunehmenden Säkularisierung der
Bevölkerung nicht mehr zeitgemäss sei.
Als Kommissionssprecherin
entgegnete ich auf dieses Ansinnen: «In nomine Domini, in Gottes Namen
und im Namen Gottes des Allmächtigen hat uns bereits seit 1291
begleitet. Damit wollten unsere Vorfahren, damit wollen auch wir zum
Ausdruck bringen, dass kein König und keine Parteien die höchste Macht
in der Schweiz innehaben. Indem wir uns auf etwas Übergeordnetes
berufen, anerkennen wir, dass wir letztlich nicht alles selbst in den
Händen haben.» Die Mehrheit des Rates sah es Gott sei Dank auch so und
der Vorstoss wurde mehrheitlich abgelehnt.
Segen der Besinnungen
Ich
hoffe und glaube, dass die erwähnten Morgenbesinnungen das integrierte
Christsein in der Politik stets neu befruchten und festigen. Und ich
hoffe und glaube, wie sicherlich auch all meine Vorgänger, dass diese
Besinnungen auch nach meiner Zeit weitergehen. Und dass Gottes Segen und
seine Liebe auch durch diese Begegnungen weiterfliessen wird. Denn:
«Alles Ding hat seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.»