Die Geschichte der Aunty Mabel

«Es hat mir gut getan, den Grund für das Leid zu erfahren»

«Aunty Mabel» wird sie genannt – Tante Mabel. Während Jahren erduldete sie Prügel und Ächtung. Ihr «Verbrechen»: sie hatte «imperialistische Schriften» (gemeint war die Bibel) in China verteilt.
Chinesische Bibel (Symbolbild)

Um sich um ihren kranken Bruder kümmern zu können, verzichtete sie auf die Ehe. Mabel gehörte zu einer wohlhabenden Familie, die in einem grossen Haus im Zentrum von Peking lebte. 1949 wurde sie als «reiche Besitzerin» gebrandmarkt, musste ihre Villa verlassen und in eine Gartenhütte umziehen.

Mit dem Ausbruch der «Kulturrevolution» in China verlor sie ihre Stelle als Ärztin und wurde in eine Arbeiterkolonne gesteckt, wo sie Sand schaufeln musste. Dort erlebte sie von der Hand der ‚Roten Garden’ die schlimmsten Demütigungen. Das erste Jahr der «Kulturevolution» in China, von 1966 bis 1967, war das chaotischste, da die Roten Garden die Freiheit hatten, anzugreifen, wen immer sie wollten.

Plakat mit «Verfehlungen»

Sie verprügelten Mabel, trieben sie durch die Strassen und zwangen sie, ein Plakat zu tragen, auf dem alle ihre Verfehlungen aufgelistet waren. Vor Mabels Haus wurde ein Schild aufgestellt, das sie als Ausgestossene bezeichnete, weil sie «imperialistische Schriften», damit war die Bibel gemeint, verteilt hatte.

Von der Ausgestossenen zum Rettungsanker

Mabel ging durch die Hölle. Schikaniert und verprügelt kehrte sie eines Tages in ihre Hütte zurück und sagte zu Gott: «Ich kann nicht mehr». Sie ergriff ein grosses Hackmesser, hielt es über ihr Handgelenk, und bevor sie es niedersausen liess, richtete sie ihr ‚letztes’ Gebet an Gott: «Herr, wenn ich falsch handle, dann hilf mir!». Das Hackmesser kam nie zum Einsatz. Sie legte es weg, setzte sich nieder und brach in Tränen aus.

Hochrangige Besucher

Acht weitere Jahre erduldete sie Prügel und Ächtung. «Irgendwie verlieh Gott mir die Kraft zum Durchhalten», sagte sie. Erst viele Jahre später verstand sie. Ende der 70er Jahre wurden die Roten Garden aufgelöst. Mabel wurde nicht rehabilitiert und bekam auch ihr Haus nicht zurück. Statt dessen kamen plötzlich Menschen in Strömen zu ihr. Zu ihrem Erstaunen waren die meisten Besucher hochrangige Mitglieder der kommunistischen Partei. Und was sie noch mehr verblüffte: Alle baten sie um Bibeln. «Warum kommt ihr zu mir? Warum sucht ihr unter allen Bewohnern Pekings ausgerechnet das Haus einer 70-jährigen Frau auf?», fragte sie. Die Antwort war stets die gleiche: «Während der Kulturrevolution stand doch ein Schild vor ihrem Haus mit ihren Verfehlungen. Eine davon war die Verteilung von Bibeln. Deshalb bin ich gekommen, in der Hoffnung, dass Sie vielleicht eine übrig haben.»

Leid und die Auswirkung

Auf wunderbare Weise gab ausgerechnet jenes Schild, das ihr Leben zur Hölle gemacht hatte, den Anstoss für eine missionarische Arbeit. Mabel gelang es, durch Verbindung mit einem westlichen Missionswerk den ersten Lieferkanal für den Bibelschmuggel in die chinesische Haupstadt zu öffnen.

Ihrer Geduld im Leid verdanken einige Christen unter den hochrangigen Mitgliedern der kommunistischen Partei ihren Glauben.

Mabel erinnert sich: «Jeder Tag war ein Kampf, und es war hart. Aber es hat mir gut getan, den Grund für das Leid zu erfahren. Das stärkt meinen meinen Glauben.»

Autor: Alex Buchan
Quellen: Freitagsfax/Offene Grenzen

Datum: 14.02.2004

Werbung
Livenet Service
Werbung