Wenn Frauen den Schleier fallen lassen - Reformdruck und Pilgerscharen in Saudi-Arabien

Kaaba in Mekka
Saudischer Kronprinz Abdullah
Wirtschaftsforum in Dschidda, Januar 2003
Mekkapilger

Das saudische Wüstenkönigreich erwartet in den diesen Tagen mehr als zwei Millionen Mekka-Pilger, davon 1,3 Millionen aus dem Ausland. Die Anforderungen an die Gastgeber sind nochmals gewachsen: Seit der letzten ‚Hadsch’ Anfang 2003 ist Saudi-Arabien zweimal von massiven Terror-Anschlägen des al-Qaeda-Netzwerks erschüttert worden.

Der oberste Pilger-Manager, Innenminister Prinz Naif, beeilte sich am Dienstag, den aus allen Teilen der Welt anreisenden Muslimen Sicherheit zu versprechen. Die Ordnungskräfte seien auf jegliche Störung vorbereitet, sagte er nach einer Inspektion von Sicherheits- und Antiterror-Einheiten bei Mekka.

Mehr Fernsehteams

Die fünf Tage dauernden Rituale beginnen am Freitag. Die Pilgerreise nach Mekka ist allen erwachsenen, gesunden MuslimInnen einmal im Leben geboten. Dieses Jahr senden nach saudischen Angaben über 26 Fernsehkanäle live aus Mekka. Erstmals berichtet auch die BBC mit einem eigenen Team; die Nicht-Muslime unter den Journalisten dürfen Mekka allerdings nicht betreten.

Das saudische Königshaus will den Gästen über zwei Millionen Lebensmittelpakete gratis abgeben. Um der möglichen Ausbreitung der asiatischen Vogelgrippe in der Masse der Pilger vorzubeugen, hat Saudi-Arabien laut seinem Gesundheitsminister an allen Einreisestellen Wärmekameras aufgestellt. Diese sollen kranke Pilger anzeigen. Nicht gefasst waren die früh anreisenden Pilger auf die schweren Regenfälle, die Anfang der Woche auf Mekka niedergingen.

Scharia statt Extremismus – König Fahd zur Schwäche der islamischen Gemeinschaft

In einer Botschaft, die an einer Konferenz der Muslim-Welt-Liga in Mekka verlesen wurde, hat der saudische König Fahd umfassende Reformen in der Religionsgemeinschaft angemahnt. Nur so könnten die anstehenden Herausforderungen bewältigt werden.

Die jungen Muslime rief der König auf, sich von Extremismus zu distanzieren und die islamischen Werte der Güte und Wohltätigkeit hochzuhalten. Die Schwäche der Umma, der weltweiten Gemeinschaft der Muslime, schrieb das Staatsoberhaupt der zögerlichen Umsetzung der Scharia, des mittelalterlichen islamischen Gesetzes, zu.

Anhaltende Suche nach Terrorzellen und ihren Geldquellen

Die saudische Führung hat die Polizeipräsenz in Mekka und Umgebung verstärkt. Über 1000 Kameras sind installiert worden, um die zu den heiligen Stätten führenden Strassen zu überwachen. Der Innenminister Prinz Naif bekräftigte laut den englischsprachigen ‚Arab News’, die Sicherheitskräfte des Landes seien imstande, den Terrorismus auszurotten. Es gebe in Saudi-Arabien keine Lager, in denen Terroristen ausgebildet würden; dies geschehe im Ausland, sagte Prinz Naif.

Vor kurzem hat die Polizei 24 gesuchte Terror-Verdächtige verhaftet; nach dem Rest werde gesucht, hiess es. Zusammen mit den USA suchen die saudischen Behörden den Fluss von Geldern auf die Konten eines saudischen Hilfswerks zu stoppen, das der Terror-Finanzierung bezichtigt wird. Die UNO wurde letzte Woche aufgefordert, die Zweigstellen der bekannten Islamischen Stiftung Al-Haramain in Pakistan, Indonesien, Kenia und Tansania als terroristische Organisationen zu bezeichnen.

Damit sollen die dort lagernden Guthaben blockiert werden. Die in Saudi-Arabien beheimatete Stiftung erhält jährlich Dutzende Millionen Dollar. Laut Beamten in Washington haben die vier Regierungen bisher nicht genug gegen die Organisation getan. Nach US-Ermittlungen finanzierte die indonesische Niederlassung Terroristen im eigenen Land. Einer der ranghöchsten saudischen Beamten behauptete vor der Presse, nun kooperierten die USA und das Königreich enger in der Terrorbekämpfung als alle anderen Länder.

Unerhört: Frauen lassen den Schleier fallen

Der Grossmufti von Saudi-Arabien, Scheich Abdulaziz al-Scheich, hat mit scharfen Worten verurteilt, dass Frauen am Wirtschaftsforum in Dschidda wagten, den Vollschleier (Hijab) fallen zu lassen und mit Männern zu reden. Der Scheich äusserte sich empört darüber, dass Bilder des Tabubruchs von Zeitungen verbreitet wurden. Dies sei von der Scharia verboten, sagte er laut der amtlichen saudischen Presseagentur.

Den Zorn des Scheichs, der auch den Rat der saudischen Islam-Gelehrten präsidiert, haben die Zeitungen offenbar vor allem dadurch erregt, dass sie den Vorfall als Beginn der Frauenbefreiung im Land darstellten. Der Grossmufti zitierte in diesem Zusammenhang einen bekannten Spruch Mohammeds, der von militanten Gruppen als Rechtfertigung für den Kampf gegen ungöttliche Gesellschaften verwendet wird.

Reformdruck und Provokationen

Am Wirtschaftsforum in Dschidda waren die männlichen und weiblichen Delegierten durch einen Vorhang getrennt, aber den Frauen wurde nicht verwehrt, in die Männer-Abteilung zu wechseln. Einige taten dies; die bekannte Geschäftsfrau Lubna Olaya rief vor der Versammlung dazu auf, die Gleichberechtigung der Geschlechter zu verwirklichen.

Die scharfe Warnung des höchsten religiösen Würdenträgers (dem auch die Herrscher des Wüstenkönigreichs das Wort nicht verbieten können) dem wird als Versuch gesehen, dem Reformdruck zu begegnen, der sich in den letzten Monaten aufgebaut hat. Der Grossmufti sagte, der Umgang von Frauen mit Männern in der Öffentlichkeit sei die Wurzel allen Übels. Die Prinzen des Herrscherhauses (manche erlauben sich ausserhalb der Landesgrenzen Extravaganzen) erinnerte er daran, dass der Staatsgründer Frauen den Umgang nur mit den nächsten Verwandten erlaubt hatte.

Machthaber in der Defensive

Mitte Januar hatte der saudische Kronprinz Abdallah ibn Abdelaziz, der die Regierungsgeschäfte führt, in einer Fernsehrede seine Bereitschaft zu Reformen unterstrichen. Der Herrscher sucht einen Kurs zwischen der konservativen Geistlichkeit und den proamerikanischen Liberalen im Land zu steuern. Einerseits ist ein Zentrum für den nationalen Dialog zwischen Predigern, Politikern und Intellektuellen eingerichtet worden.

Anderseits soll - zur Abwehr des bei Jugendlichen verbreiteten Jihad-Extremismus – „eine bessere Unterrichtung des Volks über das Wesen der Religion“ angestrebt werden, wie der NZZ-Korrespondent schreibt. Der Islam ist laut dem Kronprinzen «die heilige Verfassung der saudischen Gesellschaft», welche nicht unter dem Vorwand der Erneuerung verfälscht werden dürfe. Doch der Reformprozess müsse vorangehen.

Gegen Diskriminierung, für neue Lehrpläne

In den zwei bisherigen Gesprächsrunden des Zentrums wurden gemäss saudischen Presseberichten die Aufhebung jeglicher Diskrimination zwischen den Bürgern und eine grundlegende Überholung der saudischen Lehrpläne sowie ein vernünftiges Mass an Pressefreiheit gefordert. Laut der NZZ reagierte der Kronprinz darauf abwehrend: „Seine Worte trieften von Appellen an Bürgersinn und nationale Verantwortung.“

Verantwortung müssen die saudischen Bürger auch im sexuellen Bereich vermehrt wahrnehmen: Der Staat will drei AIDS-Kliniken einrichten, da neben vielen Ausländern auch 1350 Einheimische an AIDS erkrankt sind. Ausländische Arbeitnehmer, bei denen AIDS ausbricht, werden so lange behandelt, bis ihr Zustand erlaubt, dass sie in die Heimatländer ausgeschafft werden.

Sture Islam-Gelehrte: Autofahren muss Frauen verboten bleiben

Die Beschränkungen, denen Frauen im modernen Saudi-Arabien unterliegen, erregen immer mehr Unmut. Doch die islamischen Geistlichen geben sich stur: Sie verwehren ihnen weiterhin auch Dinge wie das Steuern von Autos. Ohne einen verwandten Mann, der über sie wacht, dürfen Frauen nicht unterwegs sein. Bis heute sind Frauen von Männer in allen Bereichen des öffentlichen Lebens streng getrennt: in Schulen, an Universitäten, in Spitälern, in Restaurants. Vergnügungsparks haben gesonderte Öffnungszeiten für die Geschlechter.

Der bekannte Islam-Gelehrte Scheich Ayed Al-Qarni sah sich nun veranlasst, das Verbot des Autosteuerns durch Frauen, dieser ‚sündigen Handlung’, nochmals zu begründen: Der Umgang von Frauen mit Männern hinter Autotüren würde der sittlichen Verderbnis Vorschub leisten. Sie würden ihr Haar und ihr Gesicht enthüllen. Dies vertrage sich nicht mit dem Schutz ihrer Ehre. Kritiker dieser Sturheit verweisen darauf, dass die Vorschriften schon offener ausgelegt wurden: In den 1960er Jahren konnten sich Frauen freier bewegen.

Die Wurzel: religiöse Intoleranz

Saudi-Arabien ist gegründet auf dem Bündnis des Herrscherhauses der Saud mit den Nachfolgern des Predigers Mohammed Abdel-Wahhab (1703-92). Der Staat war bisher der strikten wahhabitischen Ausprägung des Islam verpflichtet, welche Kontakt mit Fremdem misstrauisch-ablehnend gegenüber steht und Unislamisches zu hassen und zu bekämpfen gebietet. Für die Herrscher gibt es keine Alternative zu dieser Prägung. Kronprinz Abdullah: „Dieses Land ist entweder muslimisch oder gar nichts.“

Das absolutistisch regierte Land gehört auch mit seiner Religionspolitik zu den intolerantesten Staaten der Welt. Nicht-wahhabitische islamische Minderheiten werden diskriminiert. Ausser dem Islam darf keine Religion praktiziert werden! Darunter leiden Zehntausende von Christen aus Asien und Afrika, die in Saudi-Arabien Arbeit gefunden haben.

Amnesty-Bericht über Unterdrückung der Reformbewegung:
web.amnesty.org/library/Index/ENGMDE230102003

Datum: 29.01.2004
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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