Istanbul

Das Christentum in der Türkei ist eine sterbende Religion

Veria: An der Stelle, wo im Jahr 54 Apostel Paulus seine erste Predigt hielt, hat man ein offene Kappelle m. Mosaiken errichtet. Nur wenige Schritte davon entfernt, erinnert eine Moschee an die Jahre unter türkischer Oberhoheit.
Halil Rahman in Sanli Urfa, einst das biblische Ur oder antike Edessa, wo Abraham und Hiob gelebt haben sollen, ist heute die fünft heiligste Stadt des Islam.

Das Christentum in der Türkei ist eine sterbende Religion. War vor 100 Jahren noch jeder fünfte Osmane in Kleinasien ein Christ, so ist der Anteil auf heute 0,1 Prozent gesunken - kaum mehr als 100.000 Gläubige. In Istanbul zählte 1914 fast jeder zweite Einwohner zu einer christlichen Kirche; heute liegt der Anteil der Christen in der 15-Millionen-Metropole bei weniger als einem Prozent. Zwar erklärte vor 75 Jahren, am 8. April 1928, die Grosse Nationalversammlung der Türkei (TBMM) unter Kemal Atatürk die Trennung von Staat und Religion zum Verfassungsgrundsatz. Doch die Realität sieht bis heute anders aus.

Wenn die Christen auch im Strassenbild nicht besonders auffallen, so sind sie doch bei den Behörden registriert. An der Ziffernfolge im Personalausweis kann jeder Polizist sofort erkennen, ob er gerade einen Christen kontrolliert oder nicht. Hohe politische oder gesellschaftliche Ämter sind Christen in der Regel verwehrt; im Parlament gibt es keinen einzigen. Und im türkischen Militär haben Christen erst recht nichts zu sagen.

Der Begriff der "Minderheit" ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Zwar gesteht der Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 allen "nicht-muslimischen Minderheiten" einen Schutz zu. Nach herkömmlicher staatlicher Interpretation zählen dazu jedoch nur die heute noch schätzungsweise 2.000 Griechen, 80.000 Armenier und 25.000 Juden in der Türkei. Doch deren Rechte sind Auslegungssache.

Doppelt verdächtige Nationalkirchen

Die jahrhundertealten Nationalkirchen sind in der Türkei doppelt verdächtig, denn es gibt ein traditionelles Misstrauen gegenüber dem Christentum als einer anderen Religion und gegenüber den nichttürkischen Volksgruppen wie den Armeniern, Syrern oder Griechen. Die meisten Griechisch-Orthodoxen wurden während der Zypernkrise 1955 vertrieben. 1971 wurde die christlich-theologische Hochschule auf der Prinzeninsel Heybeli vor Istanbul geschlossen. Eine eigene Theologen- oder Religionslehrer-Ausbildung ist seitdem für die orthodoxen Kirchen nicht mehr möglich. "Das ist unser wundester Punkt, denn wir können keinen geistlichen Nachwuchs mehr ausbilden", sagt Metropolit Demetrios vom griechisch-ökumenischen Patriarchat in Istanbul. Er wünscht sich dringend eine baldige Öffnung des alten Priesterseminars.

Armenier und Syrer wurden in den Jahren nach 1915 in systematischen Deportationen als Volk fast vernichtet. In den türkischen Schulbüchern liest man darüber bis heute nichts. Stattdessen werden die Kinder als Pflichtfach in türkischer Militärkunde unterrichtet. Und auch in den Medien wird über Genozid und Diskriminierung der Christen nur zögerlich berichtet.

Zwei Generationen später darf im Land der Täter immer noch nicht über diese Ereignisse geredet werden. Nach Paragraf 312 des Strafgesetzbuchs droht dafür eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Das Wort "Genozid" ist verboten. Erst vor zwei Jahren wurde ein Schauprozess gegen den syrischen Dorfpriester Yusuf Akbulut eröffnet, weil er in einem Interview seine Meinung über die damaligen Verbrechen an seiner Kirche kund tat. Erst auf internationale Proteste hin wurde Akbulut frei gesprochen.

Obrigkeit will bei Kirchenleitung mitbestimmen

Auch die Armenier als stärkste christliche Gruppe in der Türkei werden bis heute unterdrückt. Immer wieder kam es zu Enteignungen kirchlicher Gebäude. Über die Kirchenleitung will die türkische Obrigkeit bestimmen. Erzbischof Mesrob Mutafyan konnte erst nach langen Verhandlungen zum 84. armenischen Patriarchen von Konstantinopel gewählt werden. Seine Sprecherin, die Rechtsanwältin Luiz Bakar, gibt sich entsprechend diplomatisch: "Die Beziehung zur Regierung ist sehr gut. Die neue Regierung strebt gute Reformen an, und nun müssen wir die Anwendungsbestimmungen der neuen Gesetze abwarten."

In der Tat scheint sich die Situation der christlichen Minderheiten-Kirchen derzeit zu bessern. Die im November gewählte Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung AKP unter ihrem islamistisch orientierten Vorsitzenden Recep Erdogan hat ein neues Reformpaket vorgelegt. Darin kündigt sie unter anderem eine bisher in der Türkei noch nie gekannte Stärkung der Meinungs- und Religionsfreiheit an.

Schon in den vorhergehenden Jahren gab es kleinere Verbesserungen. So darf erstmals Franz Werfels "Die 40 Tage des Musa Dagh" in türkischer Übersetzung verkauft werden. Der 700-seitige Romanbericht über den verzweifelten Kampf von sieben armenischen Dörfern gegen Deportation und die Ermordung durch die türkische Übermacht, erschienen 1933, hat bis heute nichts von seiner Brisanz verloren.

Überlegensfrage

Für die Kirchen in der Türkei wird es vielleicht zur Überlebensfrage, ob sich die religiös orientierte Erdogan-Regierung dauerhaft halten wird. Das kemalistisch-republikanische Establishment, deren Hauptpfeiler im allgegenwärtigen Militär und in der Bürokratie zu finden sind, würde einen islamistischen Schub im laizistischen Staat Kemal Atatürks wohl kaum dulden. Im schlimmsten Fall befürchten Nahost-Experten einen erneuten Militärputsch; jede Reform wäre dann gestoppt. Aber auch wenn die neue Regierung stabil bleibt, ist fraglich, ob ein islamistisch orientiertes Kabinett gerade den Minderheiten auf Dauer mehr Rechte einräumen wird. Die Christen in der Türkei hoffen, dass gerade auch die europäischen Kirchen ihrer schwierigen Situation erhöhte Aufmerksamkeit widmen werden.

Datum: 09.04.2003
Quelle: Kipa

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