Amerika zwischen Macht und Ohnmacht

USA

Die globale Dominanz der USA, sowohl politisch, wirtschaftlich wie militärisch, ist einmalig. Hat je ein Staat zuvor so viel Macht besessen? Die Vereinigten Staaten sind ein Gigant: 4,5 Prozent der Weltbevölkerung erarbeiten sich 31 Prozent des wirtschaftlichen Gesamtprodukts auf der Erde. Über Produkte, Trends und Stars dringt die amerikanische Kultur auf allen Kontinenten vor. Auch militärisch hat kein Staat der Welt auch nur annähernd eine so gut gerüstete Armee wie Amerika.

Kaum ein Konflikt auf der Welt kann ohne Amerikas Eingreifen gelöst werden. Das weiss man im Nahen Osten genauso gut wie in Zentralasien. Und – so viel Geschichtskenntnis und Ehrlichkeit müssten Europäer haben – im Grunde müssen wir um diese Gestalt eines Weltpolizisten froh sein, der demokratisch-westliche Grundwerte vertritt. Was wäre, wenn China oder Indien zu militärischen und politischen Grossmächten aufstiegen?

Erstes Opfer ist die Nato

Der aufkommende Anti-Amerikanismus – teils durchaus selbstgeschürt durch arrogantes Grossmachtgehabe – ist der Auftakt zu einem gefährlichen politischen Tanz. Das globale Machtgefüge der Nationen knirscht und knackt. Erstes Opfer ist die Nato.

Würden die Bündnispartner der Türkei helfen, wenn die Kurden die türkische Grenze überschritten? Doch genau dies ist einer der drei Grundpfeiler dieses 1949 gegründeten Militärbündnisses: die gemeinsame Verteidigung eines angegriffenen Bündnispartners. Die zweite Verpflichtung ist diejenige, ein anderes Nato-Mitglied nicht anzugreifen. Die dritte Stütze der Nato-Doktrin ist die Unterstellung militärischer Handlungen unter ein gemeinsames Oberkommando. Damit wird deutlich, dass die Nato-Staaten nur noch einer Verpflichtung nachleben – dem Nichtangriffs-Versprechen. Die beiden anderen Verpflichtungen sind nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erodiert. Die Nato ist das erste Opfer einer veränderten politischen Denkweise. Das zweite Opfer ist zum jetzigen Zeitpunkt die Uno. Ob sie wieder erstarken wird, hängt mit dem Verlauf des Irakkriegs und der Zukunft der Vereinigten Staaten zusammen.

Die Frage steht im Raum: Wie lange kann Amerika seine Vormachtstellung behaupten? Der Golfkrieg II ist eine Fortsetzung des Kriegs von 1991. Damals waren die meisten von der Gerechtigkeit des Golfkrieges angesichts des irakischen Überfalls auf Kuwait überzeugt. Die alliierten Streitkräfte bestanden aus über 30 Nationen mit einer halben Million Soldaten. In der Zwischenzeit hat sich die Meinung vieler Regierungen, die damals gegen den Irak vorgingen, geändert. Nur einer ist sich treu geblieben – Saddam Hussein.

Unter dem Versprechen Saddam Husseins, seine Massenvernichtungswaffen abzurüsten, beendete die internationale Koalition 1991 den Krieg. Der Diktator blieb an der Macht. In den darauf folgenden zwölf Jahren arbeitete die Diplomatie. In dieser Zeit verabschiedete die Uno über ein Dutzend Irak-Resolutionen. Hunderte von Waffeninspektoren wurden eingesetzt. Ohne Ergebnis. “Keine Nation der Welt kann glaubhaft machen, dass der Irak abgerüstet hat”, stellte George W. Bush fest und er fuhr fort: “Und er wird nicht abrüsten, solange Saddam Hussein an der Macht ist.”

Diese Haltung wird von der Völkergemeinschaft nicht geteilt. Sie unterscheiden den Krieg von 1991 vom jetzigen. Damals sei es um die Befreiung des vom Irak überfallenen Kuwait gegangen. Dieses Ziel habe man erreicht. Im jetzigen Krieg zum Sturz des Regimes von Saddam Hussein lässt man die USA und England allein.

Saddam hätte den Krieg vermeiden können

Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang die von Uwe Siemon Netto geäusserte Kritik an den Friedensdemonstranten und kirchlichen Kriegsgegnern. Der in Amerika lebende deutsche Journalist meint, dass Saddam Hussein möglicherweise vor Ausbruch des aktuellen Krieges ins Exil gegangen wäre, “hätte die Welt zusammengestanden”. Auf jeden Fall hätte Saddam den Krieg vermeiden können, und nicht nur den jetzigen. Hätte er 1990 nicht Kuwait überfallen, würde sein Land jetzt nicht bombardiert, sondern wäre möglicherweise sogar ein regionaler Verbündeter Washingtons.

Auch in den Jahren nach 1991 hätte der irakische Präsident die Chance gehabt, seine überdimensionierte Kriegsmaschinerie abzubauen und abzurüsten. Doch Saddam Hussein dirigierte sein Volk nach wie vor mit einem System der Angst und Unterdrückung. – Jetzt ist es zu spät. Es ist Krieg. Der amerikanische Präsident sagte wörtlich: “Der Un-Sicherheitsrat ist seiner Verantwortung nicht nachgekommen, deshalb werden wir die unsere wahrnehmen.” Der Mächtige setzte seine Macht ein. Mit welchen Konsequenzen?

USA: Der Beginn vom Ende?

Der iranische Ayatollah Ali Khamenei warnte die USA: “Die USA mögen zwar in der Lage sein, der Region kurzfristig Schaden zuzufügen. Doch der Widerstand der regionalen Nationen wird am Ende den grössten Schlag gegen die USA auslösen und sich kumulieren bis zum Fall von Amerika als Supermacht.”

Wenn ein islamistischer Staatschef wie Khamenei so etwas sagt, verwundert das nicht. Doch neuerdings werden in Europa dieselben Töne laut, zum Beispiel vom französischen Historiker Emmanuel Todd. Er sagt den Niedergang der USA als einziger Supermacht voraus. In seinem neuen Buch “Weltmacht USA – Ein Nachruf” begründet er, warum die Welt daran sei, sich neu zu organisieren, und zwar an den Vereinigten Staaten vorbei. “Ein Krieg gegen den Irak wird diesen Prozess nur noch schneller vorantreiben.”

“Die uneingeschränkte Vorherrschaft Amerikas ist schon zerbrochen, und Bush kann sie nicht wiederherstellen, auch wenn er in Bagdad einen Pyrrhussieg erringt”, sagte Todd in einem Interview. Er rechnet damit, dass sich Frankreich, Deutschland und Russland zusammenfinden werden, um die Machtansprüche der USA – gerade im Nahen Osten – einzudämmen.

Todd sprach vor Beginn des zweiten Golfkriegs mit prophetischem Pathos: “Am Tag, an dem der Krieg beginnt, wird Amerikas Macht gebrochen sein.” Die USA könnten zwar den Irak besiegen, aber nicht auf Dauer unter Kontrolle bringen.

Zusammen mit anderen meint Todd in die Zukunft blickend, dass sich die USA finanziell überforderten. Washington könne sich seinen gigantischen Militärapparat auf Dauer nicht mehr leisten. Für den Franzosen sind “Bush und sein Team gefährlich, weil sie sich der Realität widersetzen”. Und: “Sie spüren, sie sehen die Anzeichen des Niedergangs, aber sie wollen sie nicht wahrhaben. Das treibt sie paradoxerweise zu einer Politik, die Amerikas Vorherrschaft zerstören wird. Der Irak wird dafür die erste grosse Etappe sein.”

Was führt zum Verlust der Macht?

Solche Überlegungen sind für den amerikanischen Politologen Walter R. Mead abwegig. Mead meint ganz im Gegenteil: “Europa wird in den nächsten fünfzig Jahren massiv an Bedeutung verlieren. Die EU-Kommission prognostiziert, dass Europas Anteil am Weltbruttosozialprodukt von 18 auf 10 Prozent sinken wird – wegen der Überalterung, der sinkenden Bevölkerungszahl, des schwachen Wachstums.”

Mead rechnet vor, dass die USA weiter zulegen werden. Er begründet das Wachstum mit der Immigration, der höheren Reproduktionsrate und der ökonomischen Dynamik. Zudem sei Europa auch langfristig nicht in der Lage, eine schlagkräftige Militärmacht aufrechtzuerhalten. Wer wird Recht behalten? Der Europäer Todd oder der Amerikaner Mead? Stellen wir die Frage allgemein: Wie hält eine Weltmacht ihre Macht aufrecht? Oder anders gefragt: Was führt zum Verlust dieser Macht?

Der Brite Paul Kennedy untersuchte in seinem Buch “Aufstieg und Fall der grossen Mächte” die Ursachen für den Sturz vormals blühender Staaten. Dabei stellte er generell fest, dass grosse Reiche dazu neigten, sich zu übernehmen. Das Römische Reich krankte zuerst an innerer Dekadenz und wurde durch zahlreiche an sich eher kleine Angriffe von aussen schliesslich zerstört.

Andere, wie die Dynastie der Habsburger, scheiterten an Selbstüberschätzung und Überforderung. “Imperiale Überdehnung” nennt das Kennedy, eine zu grosse Zahl von Verpflichtungen. Schon Ende der 80-er Jahre schrieb der britische Historiker in Bezug auf die USA von einem “relativen Niedergang”; etwas, was viele Grossreiche erleben mussten, das britische Königreich etwa oder die Sowjetunion.

Völkerrechtler wie der Deutsche Michael Bothe (Frankfurt) unterstellt den USA eine langfristige Strategie, die “dahin geht, dass die USA bewusst das Völkerrecht im Sinne einer hegemonialen Weltordnung umgestalten wollen. Diese Bestrebungen seinen allenfalls mit dem Römischen Reich vergleichbar”.

Saddam Hussein hat viel erreicht

Saddam als Verkörperung des arabischen Willens, der vielleicht militärisch, nicht aber politisch-moralisch besiegt wurde, diese Meinung könnte eine ganze Generation in der arabischen Welt mit Hass auf den Westen vergiften.

Die Ansätze dazu beweisen die Unruhen in den arabischen Staaten. Angeheizt von islamischen Predigern, wird zum Widerstand und Kampf gegen die “Invasoren” aufgerufen. Die Rolle, die der Islam dabei spielt, ist offensichtlich. Bedenklich, dass dies für Kriegsgegner kein Thema ist. Gerade in Frankreich, einem Staat mit hohem moslemischen Bevölkerungsanteil, schweigt die Regierung geflissentlich. Sie hat Angst, dass die Vororte französischer Städte zu brodelnden Unruheherden werden.

Angesichts der angespannten Lage weltweit und den wachsenden Ressentiments gegen die USA schreibt die “Financial Times” richtig: “Die Amerikaner ihrerseits müssen alles dafür tun, den ohne internationale Zustimmung begonnenen Präventivkrieg so zu führen, dass er nicht zur politischen Katastrophe wird.”

Es ist nicht zufällig, dass Saddam Hussein zu jedem noch so verwerflichen Trick greift, um der USA zu schaden. Zielgerichtet bemüht er sich, Erinnerungen an Vietnam wach werden zu lassen. Medienleute, die Bagdad nicht freiwillig verlassen haben und nicht ausgewiesen wurden, werden in die irakische Propaganda eingespannt. Den Presseleuten zur Seite gestellte “Dolmetscher” schauen, dass es nicht zu Gesprächen mit “Menschen auf der Strasse” kommt. Ausnahmen bilden Besuche bei den Opfern in Krankenhäusern.

Wie der in Jerusalem arbeitende Journalist Ulrich W. Sahm schreibt, dürfen die nächtlichen Bombardements in Bagdad nur im Ausland gezeigt werden: “Ausserhalb des Irak haben sie den Effekt, die ‘sinnlose Zerstörungswut’ der Amerikaner zu zeigen. Im Irak selbst könnte der Effekt zu einer Demoralisierung führen und beweisen, dass die eigene Armee machtlos ist. Deshalb ist im irakischen Fernsehen nichts von dem nächtlichen Feuerwerk zu sehen.”

Wie fest steht der amerikanische Koloss? Ist er “in eine Falle getappt”, wie es Saddam Hussein formulierte? Er meint dies militärisch. Doch die grössere Gefahr kommt von innen. Der US-Staatshaushalt weist inzwischen einen Fehlbetrag von 1,8 Billionen Dollar aus – ein absoluter Rekord. Über die Kosten des aktuellen Golfkriegs hat der amerikanische Präsident bis auf die von ihm geforderte minimale Budgetaufstockung um 75 Mia. Dollar bislang kaum etwas verlauten lassen. Wie lange lässt sich mit leeren Kassen Krieg führen?

Bereits im letzten September hatte Larry Lindsay, wirtschaftlicher Berater Bushs, von einer Summe zwischen 100 und 200 Mia. Dollar gesprochen. Dieser Betrag wurde aber nie offiziell genannt. In seinem Worst-Case-Szenario geht William Nordhaus (Yale University) – ein Kriegsgegner – davon aus, dass im Falle eines langen und verlustreichen Krieges und einer darauf folgenden Rezession sowie sinkender Ölpreise zusätzlich zu den Kriegskosten die Wirtschaft massiv belastet werden könnte. Im “Idealfall” rechnet Nordhaus mit 99 Mia. Dollar, bis zu 1,92 Bio. Dollar im schlimmsten Fall.

Doch etwas anderes hat womöglich gravierendere Wirkung auf die Kraft der USA. Die Vereinigten Staaten tasten ihre eigenen Ideale und Bürgerrechte an. Immer deutlicher schält sich der 11. September 2001 als Wendepunkt heraus. Die Terrorangst untergräbt die von den amerikanischen Gründervätern so hoch gepriesene Freiheit. Amerikanische Bürger werden überwacht und regelmässig überprüft. Das geht so weit, dass ihre Bücherkäufe beobachtet werden. Die Freiheit, die man dem Irak bringen will, wird im eigenen Land eingeschränkt. Die Überwachung der Bürger wird ausgebaut. Das Misstrauen geht um.

Haben einzelne Beobachter Recht: Wird der Irak-Feldzug für die USA zum Pyrrhus-Sieg? Ereilt sie das gleiche Schicksal wie einst Pyrrhus, den Hegemon von Epiros und König der Molosser (319 bis 272 v. Chr.)? Zwar waren seine Feldzüge gegen die Römer in den Jahren 280 und 279 v. Chr. erfolgreich, doch seine Verluste waren so hoch, dass sie als “Pyrrhussiege” sprichwörtlich wurden.

Selbst wenn er Land und Leben verliert, hat Saddam Hussein mehr erreicht, als er sich in den kühnsten Träumen vorstellen konnte: Die westliche Einheit ist zerbrochen, Europa ist gespalten in West gegen Ost, der Uno-Sicherheitsrat ist schachmatt gesetzt, die Nato ebenfalls, das Völkerrecht zerrüttet. Saddam Hussein hat die Welt mit ihren Machtblöcken auf zuvor undenkbar gewesene Weise durcheinandergewirbelt. Neue Realitäten entstehen. Neue Weltordnungen kommen.

Welt ist nicht sicher geworden

Der aktuelle Krieg am Golf macht die Welt unsicherer. Seine Folgen sind unkalkulierbar. Der Politologe Herfried Münkler (Humboldt Universität Berlin) stellt fest, dass “alle Friedenskonzeptionen, wie sie von Friedens- und Konfliktforschung entworfen wurden, obsolet geworden sind”.

Gegen eine gigantische Militärmacht ist eine konventionelle Verteidigung wirkungslos. Das Beispiel Irak zeigt, wie sich kleine Staaten wehren. Um zu widerstehen, werden terroristische Wege bis hin zu bezahlten Selbstmordattentaten gefördert sowie der Einsatz gemeinster Waffen – biologische, chemische, nukleare und radioaktive.

Jetzt drohen wieder Kriege zwischen einzelnen Nationen. Jesu Aussage, dass sich “Nation gegen Nation und Königreich gegen Königreich” (Matth. 24,7) erheben werde, erhält damit neue Aktualität.

Datum: 11.04.2003
Autor: Rolf Höneisen
Quelle: factum Magazin

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