Freiheit oder Sicherheit?

«Die höchste Stufe der Freiheit liegt im selbstlosen Einsatz für andere»

Freiheit scheint heute dem Bedürfnis nach Sicherheit weichen zu müssen. Bundeshauspfarrer Alfred Aeppli macht sich für die Freiheit stark, zeigt aber auch die Bedingungen dazu auf.
Freiheit durch Glauben
Fredi Aeppli

Wie erklären Sie den Ausspruch von Paulus «Ihr seid zur Freiheit berufen...» einem Kirchenbesucher, der zuhause eine kranke Frau hat und das Geld für die nötigen Therapien nicht aufbringen kann?
Alfred Aeppli: Vermutlich hat dieser Kirchenbesucher andere Bedürfnisse als eine Belehrung über den Freiheitsbegriff. Ich würde mit ihm nach Wegen suchen, wie er bei der Begleitung seiner kranken Frau unterstützt werden kann.

Ist Freiheit heute noch ein attraktiver Begriff, oder ist er durch das Bedürfnis nach «Sicherheit» überlagert worden?
Freiheit ist der Inbegriff einer tiefen Sehnsucht der meisten Menschen. Nicht umsonst steht die Freiheit als erstes Ziel des Schweizervolkes in der Präambel der Bundesverfassung. Es folgt dann das Bestreben «Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken». Die Sicherheit fehlt in dieser Aufzählung. Das Leben ist immer mit allerhand Risiken behaftet. Es ist eine Illusion, man könne die Sicherheit «an sich» herstellen. Sicherheit ist das Ergebnis einer breit abgestützten, rücksichtsvollen und solidarischen Lebensordnung.

Steht die aktuelle Politik in der Versuchung, unsere Freiheit angesichts von Terrorgefahren zu leichtfertig zugunsten der Überwachung unserer Gesellschaft zu opfern?
Die Terrorgefahr erfordert eine wachsame Sicherheitspolitik. Dabei ist es jedoch wichtig, das Augenmass nicht zu verlieren. Wir haben das Privileg einer grossen Freiheit in unserem Land. Diese zu bewahren, ist nicht zuletzt die Aufgabe einer aktiven Friedenspolitik. Wir müssen einen sinnvollen Umgang mit der kulturellen und religiösen Durchmischung hier und in der weiten Welt finden. Dazu gehört auch eine aktive Religionspolitik. Ich meine damit nicht Abschottung, sondern Integration und das Bemühen, Menschen mit verschiedenen religiösen Überzeugungen in unsere offene und freie Gesellschaft aufzunehmen. Ein respektvoller Dialog auf gleicher Augenhöhe ist langfristig die wirksamere Terrorprävention als eine totale Überwachung.

Was ist denn der Unterschied zwischen scheinbarer und wahrer Freiheit?
Wer immer nur tut, was er will, ist nicht frei. Er ist gefangen in sich selbst und wird Sklave der eigenen Begierden. Es gilt ein paradoxer Zusammenhang: Wahre Freiheit gibt es nur in zuverlässigen Bindungen. Wir sind frei, wenn wir mit jemandem verbunden sind, der uns vorbehaltlos annimmt. Diesen Gedanken wendet der Apostel Paulus auf den christlichen Glauben an, wenn er schreibt: «Christus hat uns frei gemacht.» Jesus von Nazareth ist der Prototyp des freien Menschen. Er war fest verbunden mit dem Vater im Himmel. Aus dieser Beziehung heraus bewegte er sich in der damaligen Welt unabhängig vom Urteil der Menschen. Seine tiefe Gottesfurcht befreite ihn von jeder Menschenfurcht. In seiner Nachfolge lernen wir: Die Quelle der menschlichen Freiheit ist die Verbundenheit mit Gott.

Sie sprachen in einer Bundeshaus-Besinnung über die «Anspruchsgesellschaft». Wo geht Ihrer Meinung nach unser Begriff von Freiheit auf Kosten von anderen?
Die Freiheit ist ein Weg mit vielen Schritten. Auf diesem Weg begegnen wir den Menschen links und rechts von uns. Dabei besteht die Gefahr, dass sich die Mächtigen gegenüber den Schwächeren durchsetzen und die Freiheit als Deckmantel des Egoismus missbrauchen. Die höchste Stufe der Freiheit liegt dagegen im selbstlosen Einsatz für andere. Wer sich uneigennützig für das Gemeinwohl einsetzt, wird frei vom Kreisen um sich selbst. In diesem Gedanken gipfelt auch die Präambel der Bundesverfassung, wenn es am Schluss heisst, «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Mit der aktiven Gestaltung der Freiheit zugunsten der Schwachen ist auch der freiwillige Verzicht der Starken verbunden. Ich habe mich in der erwähnten Besinnung gegen den Trend gewendet, dass jedermann Anspruch auf alles technisch Mögliche erheben kann. In unserer technisierten Gesellschaft müssen wir vermehrt lernen, auf gewisse Möglichkeiten zu verzichten und die eigenen Ansprüche ethisch zu hinterfragen.

Wie erklären Sie den Politikern, dass diese Tendenz gefährlich werden kann?
Am Beispiel der Präimplantations-Diagnostik zeigt sich ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel. Die medizinisch unterstützte Fortpflanzung eröffnet immer wieder neue Möglichkeiten. Es liegt in der Natur der Sache, dass die ethischen Erwägungen erst hinterher folgen können, das heisst, wenn die technologischen Entwicklungen bereits gegeben sind. Genau an diesem Punkt stelle ich einen Wertewandel fest. Jene Stimmen finden zunehmend Gehör in der Öffentlichkeit, welche aus einer technologischen Möglichkeit einen Anspruch auf deren Anwendung ableiten. Sie folgen der Einstellung: «Was die Wissenschaft entwickelt hat, das will ich auch nutzen.» Früher stand im Familienleben am Anfang ein Kinderwunsch. Die gesunde Geburt war ein Geschenk und erfüllte die glücklichen Eltern mit Dankbarkeit. Heute wird zunehmend ein Anspruch auf gesunde Nachkommen angemeldet und das Recht auf eine entsprechende medizinische Unterstützung gefordert. Diese Entwicklung greift nicht nur in der Fortpflanzungsmedizin um sich. Sie ist in vielen Lebensbereichen ein verbreitetes Phänomen. Die ethische Güterabwägung kommt zu spät. Oft sind die Würfel auf dem eigengesetzlichen Weg von Wissenschaft und Technik bereits gefallen. Diese Tendenz ist besonders bedenklich, wenn bloss mit technischen Mitteln über lebenswertes oder unwertes Leben entschieden wird. Die Signalwirkungen und langfristigen Perspektiven müssten zuvor erörtert werden.

Sehen Sie eine Grundlage für eine tragende ethische Basis, die auch Politikern ohne Zugang zur jüdisch-christlichen Weltanschauung zugänglich gemacht werden kann?
Im Auftrag von Kofi Anan haben Vertreter aus allen weltweit bedeutenden Religionen im Jahr 2001 ein Manifest für den Dialog der Kulturen mit dem Titel «Brücken in die Zukunft» herausgegeben. Sie haben gemeinsame Werte definiert, die für Christen und Muslime, Buddhisten und Hindus, Agnostiker und alle weiteren am guten Leben interessierten Menschen zugänglich sind. Dazu gehören zum Beispiel Menschlichkeit, Gegenseitigkeit und Vertrauen. Diese Haltungen sind die unerlässliche Basis für das gemeinsame Bemühen um universal gültige Werte. Dabei steht das Gemeinwohl immer höher als der individuelle Nutzen.

Wie müsste unsere Freiheit diesbezüglich neu definiert werden?
Menschlichkeit und Vertrauen bilden die Grundlage aller lebensdienlichen Werte. Ohne sie wird die Freiheit nicht über ein günstiges ethisches Umfeld verfügen. Es stellt sich die Frage, wie auf dieser Grundlage die Freiheit praktisch gelebt werden kann. Der Schlüssel ist die Weisheit, das heisst: ganzheitliches Verstehen, langfristige Perspektive, gesunder Menschenverstand und gutes Urteilsvermögen. Die Freiheit ist kein statischer Wert, der isoliert zu haben ist. Sie entwickelt sich. Wahre Freiheit hat einen dynamischen Charakter und beruht auf mitmenschlicher Verbundenheit, gegenseitiger Verantwortung und auf dem freiwilligen Verzicht, die eigene Macht durchzusetzen.

Hat auch in der Kirche der Freiheitsbegriff eine Veränderung erfahren?
Zur Aussage «Christus hat uns frei gemacht» fügt Paulus hinzu: «Er will, dass wir auch frei bleiben.» Dieses Zitat aus dem Galaterbrief ist für die Kirche auch heute noch aktuell. Damals haben sich nichtchristliche Menschen in Galatien Jesus Christus zugewendet. In der Gemeinde gab es einen Trend, sie auf traditionelle jüdische Gesetze zu verpflichten. Dagegen wendet sich Paulus. Sie sollen nicht gesetzlich versklavt werden, sondern als mündige Kinder Gottes ihren Glauben leben. Mit dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel stellt sich auch die Frage, wie weit traditionelle Moralvorstellungen für die Christen verbindlich sind. In der Diskussion gibt es gegenläufige Trends. Einerseits wollen konservative Kreise an hergebrachten Ordnungen festhalten. Anderseits relativieren pluralistisch eingestellte Menschen die biblischen Weisungen als überholt. Das sind für mich falsche Alternativen. Ich suche den Weg dazwischen. Es geht um die Frage, was Hauptsache und was Nebensache ist. Ich will am Evangelium von Jesus Christus festhalten. Das ist die Hauptsache. Die damaligen Moralvorstellungen möchte ich aber sinngemäss in das heutige Umfeld übertragen. Dazu ist jene Freiheit nötig, die der Heilige Geist immer wieder neu und dynamisch schenken kann.

Laut Paulus liegt der Schlüssel zur Freiheit in der Erlösung durch Christus. Wie könnte ein heutiges Verständnis von «Was würde Jesus tun» bei einer aktuellen Frage, zum Beispiel beim Sparen der öffentlichen Hand, lauten?
Der Appell zum Sparen richtet sich meistens gegen «die anderen». Dahinter steht oft die Angst, selbst zu kurz zu kommen. Jesus gibt uns einen Schlüssel zur Freiheit in die Hand, wenn er sagt: «Euer himmlischer Vater weiss, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.» Es geht um die Frage des Vertrauens. Gott ist unser Versorger, darum brauchen wir uns nicht zu sorgen. Er gibt uns jedoch den Auftrag, auch öffentlich füreinander zu sorgen.

Zur Person

Pfr. Dr. Alfred Aeppli, 65, verheiratet, vier erwachsene Kinder, ist Präsident des Landeskirchen-Forums und war Pfarrer der Evangelisch-Reformierten Kirchgemeinde Jegenstorf-Urtenen sowie Mitarbeiter bei den Besinnungen im Bundeshaus. In seinem ersten Beruf war er Ingenieur Agronom ETH und als Dr. sc. techn. in der landwirtschaftlichen Forschung tätig.

Zur Webseite:
Insist-Ausgabe zum Thema Freiheit

Zum Thema:
Grace Course Teil 1: Freigekauft – und doch Sklave
Was bleibt?: Die Sehnsucht nach Sicherheit

Datum: 25.07.2016
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet / Insist

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