Karlheinz Geissler

Ein Zeitforscher, der ohne Uhr lebt

Karlheinz Geissler ist Professor für Wirtschaftspädagogik und Zeitforscher. Mit seinem Buch «Enthetzt Euch!» greift er die Hast unserer Gesellschaft an. Und rät uns zur Langeweile.
Bahnhofsuhr
Das Buch von Karlheinz Geissler

Pünktlichkeit ist eine Tugend, Unpünktlichkeit wird schnell zu Unfreundlichkeit. So sind wir geprägt. «Uhrzeit ist tote Zeit», schreibt aber Karlheinz Geissler in seinem Bestseller «Enthetzt Euch!». Für den bekannten deutschen Zeitforscher ist der Uhrzeiger ein böser Finger. «In dem Moment, wo die Uhr eingeführt wird, wechseln wir von Naturzeit auf Uhrzeit, auf eine mechanische Zeit. Wird die Mechanik zum Richtmass unseres Zeitverhaltens, entlebendigen wir uns.»

Der Professor rät uns zu weniger Tempo und mehr Zeit. Wie soll das gehen? In seinem Buch bringt Geissler spannende Ansätze. So empfiehlt uns der Autor zum Beispiel Langeweile. Seine Formulierung dazu: «Man soll sich langweilen, bis man zu faul dafür wird.» Schnell würde das Problem der Ungeduld auftreten. «Wer die Langeweile stets vertreibt, wer sie nicht aushält, nicht durchsteht oder nicht durchzustehen bereit ist, steigert nur das Tempo ihrer Wiederkehr. Langweilig ist nämlich nicht irgendetwas. Langweilig bin immer nur ich mir selbst.»

«Was man der Zeit antut, tut man sich selbst an»

Das 246-seitige Werk provoziert und fordert heraus. Geissler ist überzeugt, dass wir nicht auf der Welt seien, um Zeit zu sparen. Auch nicht, um immer schneller zu werden. Unser Verhältnis zu Zeit sei ein instrumentelles. Wir täten so, als könnten wir mit der Zeit nach Belieben hantieren. Das sei ein Irrtum, ist der Autor überzeugt. «Wir haben nicht die Zeit, wir sind die Zeit. Alles, was man der Zeit antut, tut man sich selbst an. Wenn wir das wieder mehr ins Zentrum unseres Zeithandels stellen, in der Politik genauso wie in der Arbeit und im Privatleben, würden wir realistischer mit unserer Zeitlichkeit umgehen. Wir wären bescheidener, hätten mehr Geduld, würden gesünder und wären zufriedener.»

Bei vielen Thesen mögen Zweifel erlaubt sein. Eine geschilderte Erfahrung teilen wohl jedoch alle: Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit. Dafür gibts gemäss Geissler drei Gründe: Erstens habe man tatsächlich ständig weniger Zeit zur Aussicht. Zweitens werde man im Alter langsamer in den Bewegungen und den Abläufen. Zum Dritten wiederhole man viele Erfahrungen. Das Wiederholte schrumpfe und hinterlasse im Gedächtnis keine Spuren. Ist das schlimm? Gemäss Geissler nicht. «Wer seine Zeit schätzen und geniessen will, muss sich mit seiner Endlichkeit beschäftigen. Wer ehrlich zu sich ist, merkt bald, dass man sowieso immer auch verzichten muss. Man kann nie alles leben, was man angeboten bekommt. Darum ist es egal, was man lebt. Nicht egal aber ist es, wie man es lebt. Es gibt viele Zeiten, die Uhrzeit ist eine davon.»

Geissler hat keine Zeit für Hetze

Der 68-jährige Wirtschaftspädagoge ist der Ansicht, dass der Mensch seine Zeit noch nie so frei gestalten konnte wie heute. Aber vernünftig tue er das nicht. «Der Mensch muss erst noch lernen, mit seiner Zeit massvoll elastisch umzugehen. Das kann nicht im Labor, nur in der Realität geschehen, mit Versuch und Irrtum. Der erste Grossversuch zur Beschleunigung der Dinge, in der Finanzindustrie, endete im Debakel – und manch individueller in der Burnout-Klinik. Da gibts bessere Alternativen», findet Geissler, der Mitgründer und Leiter des Projekts «Ökologie der Zeit» der Evangelischen Akademie Tutzing ist.

Übrigens: Wie könnte es anders sein, Geissler lebt seit 25 Jahren ohne Uhr. «Weil ich die Zeit und nicht die Uhr lebe», begründet er. Wie geht das als Professor und pünktlich endenden Vorlesungen? «Wenn die Studenten ihre Hefte zuklappten, wusste ich, dass die Stunde zu Ende war», erklärte er einmal der Zeitung «Der Westen». Die Aufteilung der Menschen in Pünktliche und Unpünktliche sei ohnehin eine bürgerliche Erfindung. Der Mensch werde weder pünktlich geboren noch sterbe er pünktlich. Pünktlich werde er gemacht, sagt Geissler. Vor kurzem fragte ihn ein Journalist: «Für was haben Sie grundsätzlich keine Zeit?» – seine Antwort: «Für Hetze».

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Datum: 07.05.2013
Autor: Tobias Müller
Quelle: Livenet

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