Corona & Kirche

Zertifikatspflicht in den Schweizer Kirchen

Die Zertifikatspflicht beschäftigt viele Menschen in der Schweiz. Neben Kirchenleitern zunehmend auch Ethiker, Politiker und Juristen.
Zutritt nicht mehr für alle.
Die Samsung Hall in Dübendorf ist das Zuhause der ICF (Bild: ICF Zürich)
Ruth Baumann-Hölzle

Seit dem 13. September gilt in der Schweiz für den Besuch von Restaurants, Kinos, Zoos und grösseren Gottesdiensten eine Zertifikatspflicht. Wer über ein Covid-Zertifikat verfügt, wird kontrolliert und darf eintreten. In Kirchen ist auch ein Gottesdienst ohne Zertifikat möglich: mit maximal 50 Personen, Kontaktliste, Schutzmaske, Abstand. Das ist eine Sonderregel für kirchliche Veranstaltungen. Andere Treffen sind auf 30 Personen limitiert.

Schon Jesus nutzte die 50er-Gruppengrösse

Die Zahl 50 als Gruppengrösse wurde schon einmal eingesetzt. Zur Zeit von Jesus gab es eine Situation, wo die Aufteilung der Masse aus praktischen Gründen gefordert war, und zwar bei der Essensverteilung an 5000 Menschen (Lukasevangelium, Kapitel 9, Verse 10 bis 17). Jesus ordnete an: «Lasst sie sich lagern in Gruppen zu je fünfzig.» Das ist eine Ironie der Geschichte. Die 50er-Grenze für kirchliche Versammlungen in Pandemiezeiten hat keinen Zusammenhang mit dem Bericht aus dem Neuen Testament.

Für manche Kirchen ist die 50er-Grenze gut einzuhalten. Für viele aber nicht. Sie sind gezwungen, die Gemeinde aufzuteilen. Dies gilt für die Mehrheit der dem Verband der Freikirchen angeschlossenen Gemeinden. 64 Prozent der rund 700 dem Verband zugehörigen lokalen Freikirchen führen regelmässig Veranstaltungen mit über 50 Personen durch. Wie organisieren sie sich, ohne gegen die Verordnungen zu verstossen?

Die Gebäudesituation entscheidet mit

Gemeinden, die über genügend Platz verfügen, übertragen den Gottesdienst in einen zweiten Raum. Ein Beispiel ist die am Sonntag bestbesuchte Kirche der Schweiz, der ICF Zürich. «Komm in die Kirche, mit oder ohne Zertifikat!» So heisst es auf der Homepage. Dem ICF kommt die Architektur der Samsung Hall entgegen. Unten in der Halle feiern bis zu 1000 Zertifizierte, oben auf dem Balkon diejenigen ohne Covid-Zertifikat in 50er-Gruppen. Der Gottesdienst wird zusätzlich in ein Loft übertragen, «mit live Worship, Message via Leinwand». Jede dieser Gruppen hat einen separaten Ein- und Ausgang, auch eigene Toiletten.

ICF erklärt: «Wir positionieren uns als Kirche nicht für oder gegen die politische Situation mit den Massnahmen, sondern möchten die Fahne der Einheit in Jesus hochhalten.» Im ICF Zürich können am Sonntag alle ohne Anmeldung kommen. Die Triage mit Raumzuteilung erfolgt vor Ort. Zudem hat die Kirche vor der Samsung Hall noch ein Testcenter eingerichtet, sodass auch Ungeimpfte vor der Celebration einen Schnelltest machen können.

Zertifizierung schafft eine neue Ausgangslage

Was tun Kirchen, die räumlich nicht ausweichen können? Dass die Gottesdienste online übertragen werden, ist inzwischen fast Standard. Und mit 50er-Gottesdiensten hat man bereits Übung. Manche bieten zwei Gottesdienste hintereinander an. Das ist für das Team der Mitarbeitenden aufwendig. Das Zertifikat schafft eine neue Situation: Kirchen können den Saal wieder füllen, die Besucher dürfen ohne Maske singen und feiern wie vor Corona. Aber nur die mit Zertifikat. Und die anderen?

Impfen wird von BAG, Bundesrat und dem Dachverband der Freikirchen empfohlen. Es zu tun, bleibt eine persönliche Entscheidung, eine Gewissensfrage. Die Vorstände lokaler Kirchen müssen sich fragen, ob sie die Gemeinde nach den BAG-Regeln aufteilen und Gottesdienste für Gemeindeglieder mit und für solche ohne Covid-Zertifikat einführen sollen. Gemeinde Jesu mit Zertifikatspflicht? Wie wirkt sie sich auf eine Gemeinschaft aus?

Wie beim Restaurantbesuch müssen auch Gottesdienst-
besucherinnen und -besucher am Eingang kontrolliert werden. Wer übernimmt die Zertifikats- und Identitätskontrolle? Eine sowohl emotional wie rechtlich sensible Angelegenheit. Der Freiburger Rechtsprofessor Marcel Niggli (61) ist überzeugt, dass die Zertifikationspflicht schon an der fehlenden gesetzlichen Grundlage für eine Identifikationspflicht scheitert. Niggli gegenüber der Weltwoche: «Was der Bundesrat nicht von uns verlangen darf, dazu darf er auch keinen anderen verpflichten, es von uns zu verlangen.» Ein Wirt ist gemäss Niggli nicht zu einer Ausweiskontrolle befugt. Wirtsleute würden vom Bundesrat in die Rolle von Hilfspolizisten genötigt, und Pastoren und ihre Teams damit.

Oder soll eine Gemeindeleitung die Zertifikatspflicht als «weltlich Ding» betrachten und sie nicht in der Gemeinde einführen? Das bedeutet Verzicht auf stimmungsvolle Meetings im Grossen zugunsten von Gottesdiensten im Kleinen. Nur so lässt sich die aufgedrückte Trennung umgehen. Die Einheit wird höher gewichtet als der individuelle Vorteil. Man trifft sich mit dem Ziel, dass «im Leib keine Spaltung sei» (1. Korinther, Kapitel 12, Vers 25). In Gruppen zu 50 hält man das Schutzkonzept ein, trinkt Kaffee im Freien und betet, dass die Zertifikatspflicht bald aufgehoben wird.

Bedauern über Zertifikatspflicht

Einschränkungen der Grundrechte zum Gesundheitsschutz und zur Förderung der Volksgesundheit müssen verfassungskonform, demokratisch legitimiert, differenziert und verhältnismässig sein. Stellt die Zertifikatspflicht die Glaubensfreiheit in Frage? Der Dachverband Freikirchen.ch bedauert die Zertifikatspflicht ausdrücklich. Er spricht sich aber klar gegen zivilen Ungehorsam aus und empfiehlt eine Umsetzung der Verordnungen «mit Augenmass». Er hat am 13. September ein Schutzkonzept für Gottesdienste mit Zertifikatspflicht und ein Schutzkonzept für Gottesdienste bis 50 Teilnehmende erlassen. Ein Auskunftsbegehren der Dachverbände Freikirchen.ch und Réseau wurde vor wenigen Tagen vom BAG abschlägig beantwortet. Der Verband Freikirchen.ch klärt gegenwärtig rechtliche Schritte ab. Wie ist der verfassungsrechtliche Schutz der Glaubensfreiheit mit einer Zugangsbeschränkung für Kirchen zu vereinbaren?

Am gegenwärtigen Corona-Regime stören sich nicht nur Ungeimpfte und Fromme. Katharina Fontana schreibt in der NZZ: «Auch viele Geimpfte und Genesene halten es für unwürdig und bedrückend, dass die Landesregierung die Bevölkerung in Zertifizierte und Nicht-Zertifizierte einteilt und Letztere vom sozialen Leben streckenweise ausschliesst.» Der Bundesrat solle sich überlegen, «welche Geister er mit der massiven Ausweitung der Zertifikatspflicht aus der Flasche gelassen hat und wie er den schleichenden Prozess der oft willkürlichen Freiheitseinschränkungen wieder rückgängig machen kann oder möchte». Das schreibt Physikprofessor Frank Scheffold (Universität Freiburg), ehemaliges Mitglied des Nationalen Forschungsrats, in einem Meinungsbeitrag in der NZZ.

Für Ruth Baumann-Hölzle vom Interdisziplinären Institut für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung Dialog Ethik zeichnet sich ein schleichender Wechsel vom Würde- zum Nutzenparadigma ab. Dabei verliere das Individuum seinen bedingungslosen Anspruch auf Integrität und werde durch staatliche Massnahmen instrumentalisiert. Als ein weiteres Beispiel für diesen Paradigmenwechsel nennt sie die Organspende. Wer keine Organe spenden will, muss dies künftig aktiv kundtun.

Ruth Baumann-Hölzle bemängelt, dass der Staat die Pandemiemassnahmen gegenwärtig nicht hinsichtlich des Gefährdungspotenzials von bestimmten Bevölkerungsgruppen differenziere, obwohl das Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko sehr unterschiedlich sei. «Stattdessen werden die Grundrechte aufgrund des individuellen Verhaltens hinsichtlich Impf- und Testbereitschaft gewährt oder vorenthalten.» Es stelle sich die Frage, «wie verhältnismässig einzelne Grundrechts-
einschränkungen für die Gesamtbevölkerung sind». Und: «Generell wird finanziell benachteiligten Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit der Wahl zwischen Impfung und Test vorenthalten. Dies ist ein indirekter Impfzwang, das heisst, eine erzwungene Körperverletzung», schreibt Baumann-Hölzle in der NZZ. Sie stellt klar: «Soll die Schweiz auch zukünftig ein Rechtsstaat bleiben, müssen alle politischen Entscheidungen und Handlungen gegenüber dem individuellen Anspruch auf Menschenwürde und Menschenrechte verantwortet werden.»

Schneeberger: «Gottesdienste sollten offen sein für alle»

Peter Schneeberger, Präsident des Verbands der Schweizer Freikirchen, argumentierte in einem Talk mit Livenet ähnlich. Der Staat habe noch nie so viel Einfluss auf die Kirchen genommen wie heute. Die Zertifikatspflicht mit Kontrollzwang und die Möglichkeit, abgewiesen zu werden, greife ungerecht­fertigt in den freien Kirchenbesuch ein. Gegenüber der NZZ am Sonntag antwortete Schneeberger in Bezug auf die Zertifikatspflicht zudem auch aus geistlicher Sicht: «Diese Regel widerspricht den christlichen Grundsätzen, die wir vom Evangelium kennen. Gottesdienste sollten offen sein für alle, ohne Kontrolle eines Zertifikats oder der Identität.»

Zum Schutzkonzept des Dachverbandes Freikirchen.ch

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Datum: 19.10.2021
Autor: Rolf Höneisen
Quelle: ideaschweiz

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