Leben mit der Bilderflut

Fernsehen
Roland Stangl und Fritz Herrli (Tagesleitung)
Daniel Perrin

Aarau – Wie wandelt sich die Gesellschaft durch die Unmenge an Bildern aus der Ferne, die die Medien vermitteln? Was bedeutet die Bilderflut für christliche Gemeinden und für evangelische Medienarbeit? Gegen 50 Personen, Journalisten und Interessierte bis hin zum 78-jährigen Gärtnermeister, liessen sich am Samstag am Medientag der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) auf Facetten des unerschöpflichen Themas „Vom Wort zum Bild“ ein.

„Am Anfang war das Wort“: Thomas Härry, Pfarrer der Aarauer Minoritätsgemeinde, ging in einem theologischen Tour d’horizon von diesem grundlegenden Satz der Bibel aus, um die „Tendenz des Menschen zum Bild“ und die Neigung, Bilder gegen Worte auszuspielen, zu bewerten. Wahrheit über Gott und Menschen erschliesst sich zunächst durch das Wort. Doch das Wort Gottes suche immer Verleiblichung, eine konkrete Gestalt, sagte Härry. Darum trete das Bildhafte zum Wort hinzu; es gewähre, indem es durch Abbildung vereinfache, Zugang zur Wirklichkeit.

Bild hilft dem Wort

Der Gott der Bibel macht durch das Bildhafte deutlich, dass sein Wort glaubwürdig ist, sagte Härry. Und dies gilt auch, wenn das Bild der letzten Wirklichkeit nicht entsprechen kann, wie schon der israelitische König Salomo erfasste. In Jesus Christus wurde Gott Mensch; sein Wesen fand ungebrochenen Ausdruck: „Wir sahen seine Herrlichkeit“, fasste der Apostel Johannes seine sinnliche Erfahrung zusammen.

Wenn das Bild das Hören auf das Wort verstellt

Im Mittelalter gaben die Kirchen den Menschen, die nicht lesen konnten, Bilder als Nahrung für die Frömmigkeit. Härry sagte, dass die Reformatoren auf den herrschenden katholischen Reliquienkult überreagiert hätten. Dabei habe Martin Luther – im Unterschied zu den radikalen Bilderstürmern in der Schweiz – am Bildhaften als nötiger Hilfe zum Verstehen des verkündigten Worts festzuhalten verstanden. Vom deutschen Reformator stammt der Satz: „Wir können nicht ohne Bilder denken noch verstehen“.

Weiter führte Thomas Härry aus, dass im Umgang mit (religiösen) Bildern die selbe Gefahr liegt wie im Umgang mit religiösen Erfahrungen: dass das Bild als solches spiritualisiert und mit Wirklichkeit gleichgesetzt wird, wo es doch nur auf sie hinweisen wollte. Auch in Gottesdienst sei heute darauf zu achten, dass das Sichtbare nicht wichtiger werde als das inhaltlich Vermittelte. Bilder dürften kein Eigenleben entwickeln, sagte Härry: „Je anspruchsvoller und besser die erwendeten bildhaften Hilfsmittel in Kirche und Gottesdienst sind, umso anspruchsvoller und klarer muss die Wortverkündigung sein.“

Mittlerweile ist es eine Binsenwahrheit, dass eine Überreizung mit Bildern das Aufnahmevermögen des Menschen beeinträchtigt. Auch im Gottesdienst geht so vom Inhalt, der vermittelt werden soll, viel verloren. Thomas Härry riet, diesem Substanzverlust durch anhaltende, meditierende Betrachtung von Wort und wesenhaftem Bild zu wehren.

Warum Fernsehen ermüdet

Der zweite Hauptreferent am SEA-Medientag war der Journalist und Videoproduzent Roland Stangl. Eindrücklich führte er die Macht, die Medien mit Bildern ausüben, vor Augen. Das Bild nimmt einen immer höheren Stellenwert ein. Aus ‚Bleiwüsten‘ (Zeitungsseiten ohne Bilder) wurden ‚Bildstrecken‘. Dem Schweizer Fernsehen ist eine Nachricht ohne Bild selten der Ausstrahlung wert. Die Schweizer geben laut Stangl 4 Milliarden Franken jährlich für audiovisuelle Medien aus (pro Kopf gerechnet ein Rekordbetrag).

Der Journalist wies auf die Prozesse im Hirn hin, die bei der Verarbeitung von Wort und Bild ablaufen. Der Körper entspanne sich zwar beim Fernsehkonsum, doch hätten Augen und Hirn in der Verarbeitung der vielen Dutzend Bildeindrücke pro Sekunde Enormes zu leisten. Dies spürt, wer nach einem Fernsehabend ein Buch lesen will, sagte Stangl. Die Informations- und Reizüberflutung bringt es mit sich, dass von rund 15 Meldungen in der Tagesschau zwei bis drei in Erinnerung bleiben. Bilder dringen ungefiltert ins Bewusstsein und ins Unterbewusste ein.

‚Leben aus zweiter Hand'

Stangl erwähnte die radikale Forderung des ehemaligen Top-Werbefilmers Jerry Mander: «Schafft das Fernsehen ab!» Mander fand, dass er „durch die Massenmedien direkt zu den Menschen sprechen und wie ein Zauberer aus einer anderen Welt Bilder in ihre Köpfe setzen“ konnte. Heute sehen Herr und Frau Schweiz täglich zweieinhalb Stunden fern, und man schätzt die Zahl der Internet-Süchtigen bereits auf 100'000.

Dies ist für Menschen ziemlich neu, wie Stangl am SEA-Medientag herausstrich: „Wir sehen uns einer zunehmenden Innenweltbeeinflussung und -verschmutzung ausgesetzt. Wir sind erst die zweite Generation, die die meisten Bilder nicht mehr aus eigenem Erleben, sondern aus dem Erleben anderer, aus der Geschichte vorgesetzt bekommt. Unsere Träume sind nur noch gemietet, unser Leben kopiert.“

Anfrage an Freikirchen

Anschliessend gaben Medienschaffende von Alphavision (Jürgen Single), ERF (Hansjörg Keller), der VBG-Zeitschrift «Bausteine» (Fritz Imhof) und der Werbeagentur «Basel West» (Albin Kirchhofer) Einblicke in die mediale Verwertung von Bildern. Dütschler strich heraus, dass die Heilsarmee mit ihren Uniformen beim Schweizer Fernsehen vorkommt, andere Freikirchen jedoch kaum erscheinen. Ihre Verantwortlichen müssten sich fragen: „Wo sind die Bilder, die illustrieren, was uns wichtig ist?“ Hansjörg Keller zeigte auf, dass auch das Radio ‚Bilder im Kopf‘ oder ‚Kino im Kopf‘ (Roland Jeanneret) zu erzeugen sucht. Jürgen Single stellte die Ziele des deutschen Senders Bibel-TV vor.

Was Bildsprache und Sprechsprache im Hirn auslösen

Nach dem Mittagessen, das Gelegenheit zum Gespräch bot, entführte der Journalismus-Professor Daniel Perrin von der ZHW Winterthur die Teilnehmer ins geheimnisvolle Land der Neurolinguistik. Perrin sagte voraus, dass in den nächsten 30 Jahren die Grenzen zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort, Musik, stehendem und bewegtem Bild verschwimmen werden.

Sowohl Bildsprache wie Sprechsprache lösen im Hirn innere Filme aus. Aber, so Perrin, nur das Wort kann zwischen diesen Filmen logische Bezüge herstellen, das Warum und Wozu festhalten. Wenn Bilder Worte verdrängen, bestehe das Risiko, „dass wir weniger argumentieren und einfach Bilder addieren“. Auf die Frage, wie unter diesen Umständen Texte vermittelt werden sollen, riet Perrin, Bekanntes neu zu verknüpfen und zum Verarbeiten mehr Zeit zu geben. – Ein Interview mit Daniel Perrin über ‚Wort und Bild‘ erscheint in den nächsten Tagen auf dieser Webseite.

Datum: 18.03.2003

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