Kinder wollen sich mehr am öffentlichen Leben beteiligen können

Kinderparlament

Bern. 9 bis 16-jährige Kinder und Jugendliche haben in der Schweiz zu wenig Mitspracherechte. Liesse man sie machen, so würden sie sich viel stärker am öffentlichen Leben beteiligen. Das hat eine in dieser Art in der Schweiz noch nie durchgeführte Studie zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen ergeben. Im Auftrag von UNICEF Schweiz füllten rund 12.800 Buben und Mädchen aus der ganzen Schweiz einen Fragebogen aus, in dem sie konkret über ihre Möglichkeiten einer beteiligung in Familie, Schule und Gemeinde Auskunft geben.

Die Befragung, durchgeführt unter der wissenschaftlichen Leitung des Pädagogischen Instituts der Universität Zürich, liefert erstmals auf gesamtschweizerischer Ebene repräsentative Ergebnisse über die Partizipationsmöglichkeiten sowie über die Bedürfnisse und Wünsche von Kindern und Jugendlichen.

Die Befragung habe "erstaunliche Resultate" zutage gefördert, sagte Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin von UNICEF Schweiz. So habe sich gezeigt, dass die Mitbestimmung der Kinder und Jugendlichen zwar in der Familie gross ist - bei 48 Prozent aller Befragten -, in der Schule mit 39 Prozent bereits deutlich geringer ausfällt und in der Wohngemeinde mit 7 Prozent kaum existiert.

Weniger Beteiligung bei Ewachseneninteressen

In der Familie wachsen die Möglichkeiten parallel zum Alter: Kinder fühlen sich erst ab 12 Jahren stärker mit einbezogen. Aus ihrer Sicht hängt es aber stark von den Bereichen ab, um die es geht. Betrifft es nur sie selber, so können sie mit einem hohen Mass an Mitsprache rechnen: Bis zu 80 Prozent dürfen selber bestimmen, wie sie ihr Zimmer gestalten, wofür sie ihr Taschengeld ausgeben, wie sie sich kleiden oder wann sie ihre Freunde einladen. Werden jedoch im Familienleben die Interessensphären der Erwachsenen berührt, fühlen sich die Kinder in ihren Mitbestimmungsmöglichkeiten eingeschränkt - etwa bei der Festlegung der Ferienziele (33 Prozent), den Essenszeiten (31 Prozent) oder bei der Frage nach Haustieren (34 Prozent).

In der Schule können 39 Prozent der Kinder und Jugendlichen mitbestimmen. Einfluss nehmen dürfen sie vorab auf die Gestaltung ihres Klassenzimmers oder auf Schulfeste und Sporttage. Auf die Notengebung haben jedoch bloss 16 Prozent Einfluss, auf die Unterrichtsgestaltung immerhin 38 Prozent. Die Verfasser der Studie kommen auch im schulischen Bereich zum Schluss, dass die Partizipationsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen abnehmen, sobald die Interessen von Erwachsenen tangiert werden oder die Entscheidungsprozesse komplexer sind.

Öffentlicher Raum: Sie würden mehr, liesse man sie

Am schlechtesten ist es mit der Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Wohngemeinde und überhaupt in der Öffentlichkeit bestellt. Bloss 7 Prozent der Befragten gaben an, in diesem Bereich Mitbestimmungserfahrungen gesammelt zu haben. Mehr noch: Selbst wenn es um Themen geht, die sie selber ganz konkret betreffen, fühlen sich Kinder und Jugendliche bei Planungs- und Entscheidungsfragen im öffentlichen Raum nicht miteinbezogen.

Dem steht das ausdrückliche Interesse der befragten Schülerinnen und Schüler gegenüber, ihr Lebensfeld auch ausserhalb von Familie und Schule mitzugestalten. Liesse man sie, so würden sich Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 16 Jahren "etwa zehn Mal mehr öffentlich engagieren, als dies derzeit der Fall ist", sagte Reinhard Fatke, Professor am Pädagogischen Institut der Universität Zürich und Mitverfasser der Studie. Zwischen dem Gestaltungswillen und den realen Möglichkeiten liege eine Diskrepanz, die "ein hohes Mass an Enttäuschung" für die Kinder und Jugendlichen in sich berge, was der "Nachwuchsförderung" in der Gemeindepolitik keinen Gefallen tue, mahnt UNICEF Schweiz.

Keine Erwachsene mit der Faust im Sack

Elsbeth Müller von UNICEF Schweiz unterstrich vor den Medien: "Kinder, die erfahren haben, dass ihre Meinung zählt, werden nicht zu Erwachsenen, die die Faust im Sack machen." Fatke machte darauf aufmerksam, dass die Partizipation heute eine gesellschaftliche "Schlüssel-Entscheidung" sei. In Bezug auf Kinder und Jugendliche betonte er: "Die Erfahrung, dass die eigenen Lebensbedingungen veränderbar sind, stärkt das eigene Selbstvertrauen." Selbstbewusste Kinder und Jugendliche seien weniger anfällig "für Extremismen aller Art".

Nachholbedarf in den Kantonen und Gemeinden

Die Schweiz hat 1997 die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert. Artikel 12 dieser Konvention fordert ausdrücklich die Teilnahme und Teilhabe der Kinder. Darin heisst es unter anderem: "Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äussern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen entsprechend seinem Alter und seiner Reife."

Doch damit, so meint man bei UNICEF, hapert es in der Schweiz in der konkreten Ausführung. Und zwar dort, wo die Umsetzung erfolgen muss: auf der Ebene der Kantone und der Gemeinden. Da müssten Kinder und Jugendliche besser in Entscheidungsprozesse einbezogen und Strukturen geschaffen werden, die ihnen Partizipation ermöglichen. Dabei komme auch den Schulen eine grosse Bedeutung zu, weil gerade in diesem Umfeld Partizipation ganz konkret eingeübt werden könne.

Die Schweiz könne im übrigen bei der Ausgestaltung der Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche von bestehenden Modellen in zahlreichen anderen Ländern lernen. Elsbeth Müller wies etwa auf die Aids-Prävention in Entwicklungsländern hin, wo den Kindern und Jugendliche eine entscheidende Mitwirkung zukommt: "Kinder wachsen in die Verantwortung hinein".

Für Ärmere und Schwächere

"Stell' dir vor, du wärst Gemeindepräsident/in oder Stadtpräsident/in. Was würdest du tun?" Bei dieser Frage kreuzten fast 90 Prozent der rund 12.800 befragten Buben und Mädchen im Alter zwischen 9 und 16 Jahren diese Antwort an: "Mich für Ärmere und Schwächere einsetzen". Ebenso viele würden "Plätze schaffen für Skateboard, Inlineskates, Trottinett etc." Am wenigsten Zustimmung erhielt die Aussage: "Ich würde es genauso machen wie der/die jetzige Präsident/in".

Datum: 12.02.2003
Quelle: Kipa

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