Rechtsprofessor kritisiert SEK-"Religionsartikel" scharf

St. Gallen. Den vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) vorgeschlagenen "Religionsartikel" hat der emeritierte St. Galler Rechtsprofessor Yvo Hangartner scharf kritisiert. Der Vorschlag zur Einführung eines "Religionsartikels" in die Schweizer Bundesverfassung wird von der Römisch- Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) unterstützt.

Tatsächliche Zielsetzung?

Die Experten des Kirchenbundes schlügen vor, ausdrücklich zu bestimmen, dass die anerkannten Religionsgemeinschaften das Recht haben, "frei zu lehren und zu wirken, sich nach ihrem Selbstverständnis zu organisieren und ihre Angelegenheiten selbständig zu regeln" Da heute anerkannt sei, dass auch Religionsgemeinschaften und nicht nur Einzelne sich auf die Religionsfreiheit berufen können, stelle sich die Frage nach der tatsächlichen Zielsetzung des Vorschlags, schreibt der emeritierte Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen in einem Beitrag für die "Neue Zürcher Zeitung" vom Wochenende.

Aus den SEK-Erläuterungen gehe hervor, dass der Kirchenbund sich vor allem daran stiesse, dass viele Kantone das Stimmrecht in den Landeskirchen durch staatliches Recht regelten und damit das Ausländerstimmrecht ausschliessen und dass die Kantone rechtsstaatliche Grundsätze auch gegenüber Landeskirchen durchsetzten. Es stelle sich nun die "zentrale Frage nach der Freiheit der Kirchen im liberalen Staat". Diese dürfe "nicht einseitig zugunsten der Kirchen beantwortet werden".

Grenzen der Religionsfreiheit

Die Religionsfreiheit stosse wie jede andere Freiheit auf Grenzen, so Hangartner. Bereits das privatrechtliche Vereinsrecht, nach dem sich die Religionsgemeinschaften an sich zu organisieren hätten, enthalte zwingende Bestimmungen zur Wahrung grundlegender Anliegen der Rechtsgemeinschaft. Solche Vorbehalte würden erst recht gelten, wenn der Staat Kirchen öffentlichrechtlich organisiere und mit Privilegien ausstatte. Wie weit die staatlichen Regelungen gehen solle, sei diskutabel. Sicher widerspreche der Ausschluss der Ausländer vom Stimmrecht dem kirchlichen Gemeindegedanken, schreibt Hangartner. Jedoch uneingeschränkt das Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft zur Maxime zu erheben, wäre auf der Stufe der Bundesverfassung nicht zu verantworten.

Undeutlich bliebe der SEK-Vorschlag beim Problem der religiösen Besonderheiten von Religionsgemeinschaften in Bezug zu den grundlegenden Anliegen der staatlichen Gemeinschaft. Dazu gehörten die Rücksichtnahme auf religiöse Minderheiten in der öffentlichen Schule, bei Bauten oder im Bestattungswesen. Diese Angelegenheiten könnten allerdings kaum durch neue Formulierungen in der Bundesverfassung beantwortet werden. Sie seien von Problem zu Problem der Verwaltungs- und Gerichtspraxis aufgegeben.

Unklare Bundeskompetenzen

Nach Ansicht Hangartners sind die Vorschläge des SEK bezüglich der Aufgabenverteilung von Bund und Kantonen in Bezug auf die Religionsgemeinschaften "verwirrlich". Unklar sei, was die "Anerkennung" von Religionsgemeinschaften von gesamtschweizerischer Bedeutung durch den Bund bedeuten solle. "Anerkennung" bedeute die öffentlichrechtliche Organisation - und historisch damit gleichzeitig Privilegierung und Disziplinierung - einer Religionsgemeinschaft beziehungsweise ihrer weltlichen administrativen Hilfsorganisation. Religionsgemeinschaften könnten aber nicht gleichzeitig vom Kanton und vom Bund öffentlichrechtlich geregelt werden.

Quer zu den gegenwärtigen Bemühungen zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen würde der Vorschlag stehen, dass der Bund die sozialen und kulturellen Tätigkeiten der Religionsgemeinschaften unterstützen könne. Die öffentlichrechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften profitierten von ihrem staatlich verliehenen Steuererhebungsrecht, auch gegenüber nicht praktizierenden Angehörigen und selbst gegenüber kirchenfernen juristischen Personen, so Hangarnter. Die Landeskirchen würden nach den üblichen Regelungen der Kantone überdies Steuerfreiheit geniessen. Die Schenkungen und Vermächtnisse Privater an Religionsgemeinschaften seien weitgehend von Abgaben befreit. Landeskirchen und sonstige Religionsgemeinschaften erhielten wie andere natürliche und juristische Personen staatliche Subventionen an Leistungen für die Allgemeinheit, zum Beispiel an Aufwendungen für die Denkmalpflege oder die caritative Tätigkeit. Dass zusätzlich noch weitere besondere Bundessubventionen erwartet würden, sei "Ausdruck eines nicht zeitgemässen Anspruchsdenkens".

Datum: 14.01.2003
Quelle: Kipa

Werbung
Livenet Service
Werbung