"Nicht nur über den Islam, sondern mit Muslimen reden"

Islam-Schülerinnen

Bern. Seit diesem Schuljahr wird an den Primarschulen im luzernischen Kriens und Ebikon islamischer Religionsunterricht angeboten: Eine schweizerische Premiere. "Für Muslime ein wichtiger Schritt aus dem Getto", findet Albert Rieger, Co-Präsident der "Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz".

Interview

Stephan Moser: Albert Rieger, seit diesem Schuljahr können muslimische Primarschüler in Kriens und Ebikon islamischen Religionsunterricht an der Schule besuchen: Eine Schweizer Premiere. Was halten Sie davon?

Rieger: Das ist ein wichtiger und nötiger Schritt hin zur besseren Integration der Muslime in der Schweiz. Bisher erfolgte die islamische Bildung, der islamische Religionsunterricht im Hinterhof, im Privaten. Das leistete der Gettoisierung der Muslime Vorschub: sie blieben unter sich. Indem nun der islamische Religionsunterricht gleichberechtigt neben dem christlichen Religionsunterricht an der Primarschule, also im öffentlichen Raum, angeboten wird, wird diese Abschottung durchbrochen.

Das heisst konkret?

Rieger: Der islamische Religionsunterricht wird sichtbar, in der Öffentlichkeit wird darüber diskutiert und die muslimischen Gemeinschaften und die Behörden müssen miteinander in Kontakt treten, um Anliegen zu besprechen und die Bedingungen auszuhandeln. Damit werden die muslimischen Gemeinschaften demokratisch in die Schweizer Gesellschaft integriert.

Integrationspolitisch gesehen wäre es also wünschenswert, wenn das Beispiel von Kriens und Ebikon Schule machen würde?

Rieger: Auf jeden Fall – und ich bin überzeugt, dass Kriens und Ebikon Signalwirkung haben. Der nächste logische und wünschenswerte Schritt wäre die Einrichtung einer Ausbildungsstätte für muslimische Geistliche und Religionslehrer in der Schweiz. Damit könnte die Entwicklung eines "Euro-Islam" gefördert werden. Muslimische Geistliche, die Gesellschaft, Kultur und Sprache der Schweiz kennen, vielleicht hier aufgewachsen sind und auch ihre religiöse Ausbildung hier erhalten, können Brücken schlagen zwischen dem Islam und der hiesigen Gesellschaft. Das wäre ein entscheidender Beitrag zur Integration von Muslimen.

Der islamische Religionsunterricht in Luzern hat auch Ängste und polemische Reaktionen ausgelöst.

Rieger: Solche Ängste muss man grundsätzlich sicher ernst nehmen. Aber die Diskussion muss trotzdem mit sachlichen Argumenten geführt werden. Die Luzerner SVP etwa hat schlicht unwahr argumentiert, wenn sie etwa in Inseraten suggerierte, der islamische Religionsunterricht müsse von der Öffentlichkeit bezahlt werden. Es sind die Eltern der muslimischen Kinder, die für den Unterricht ihrer Kinder aufkommen müssen. Was die Vorwürfe angeht, hinter dem islamischen Religionsunterricht in Luzern stünden fundamentalistische Kreise, möchte ich nur so viel sagen: Das Institut für internationale Pädagogik und Didaktik IPD in Köln, von dem die Lehrpläne stammen, ist ein bekanntes und renommiertes Institut. Erst vor kurzem erhielt es den deutschen INTRA-Preis, der für Arbeiten und Projekte im Sinne von Toleranz und Versöhnung der Religionen verliehen wird.

Die "Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz" bemüht sich seit zwölf Jahren um Verständigung und Integration. Welche Themen sind dabei neben der Schule wichtig?

Rieger: Wir arbeiten an einem "Dialog des Lebens" zwischen Christen und Muslimen, der nicht bei den Dogmen der Religionen, sondern bei praktischen Fragen des Zusammenlebens von Menschen beider Religionen anknüpft. Im Spital und in der zunehmenden Zahl von bireligiösen Ehen können zum Beispiel viele Missverständnisse und Probleme auftauchen, die sich durch gezielte Information und Beratung häufig lösen lassen. Wir bemühen uns deshalb darum, Tipps und Ratschläge für solche Lebenssituationen zu erarbeiten und zu verbreiten. Wenn zum Beispiel das Personal in Spitälern weiss, das muslimische Patienten nicht nur kein Schweinefleisch essen, sondern auch bei der Pflege oder der Beurteilung von medizinischen Eingriffen religionsspezifische Wünsche und Vorstellungen haben, können bereits viele potentielle Probleme umgangen werden. In bireligiösen Ehen wird oft die religiöse Erziehung der Kinder zum Konflikt, auch da können wir mit Ratschlägen weiterhelfen. Eine besondere Herausforderung für uns ist ausserdem, bireligiöse Liturgien für solche muslimisch-christliche Trauungen zu finden.

Und was ist ihr grösster Erfolg?

Rieger: Am erfreulichsten ist sicher, dass in Bern, Basel und Zürich muslimische Gräberfelder auf den Friedhöfen eingerichtet wurden. Beide Seiten – Muslime und Behörden – haben dabei bewiesen, dass mit Dialog, Kompromiss-Bereitschaft und Pragmatismus gute Lösungen möglich sind. In Bern haben wir über mehrere Jahre hinweg mit der Verwaltung eine Lösung erarbeitet, zu der alle Seiten stehen können. In Basel und Zürich waren gleichfalls Mitglieder aus unserer Gemeinschaft an der Diskussion und Problemlösung beteiligt. Überhaupt habe ich in meiner Arbeit bei der "Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz" den Islam als sehr pragmatische und nicht als fundamentalistische Religion kennengelernt.

Haben die Terroranschläge vom 11. September die Integrationsbemühungen erschwert? Stehen auch die Muslime in der Schweiz quasi unter dem Generalverdacht des Terrorismus?

Rieger: Das befürchteten wir am Anfang. Im Rückblick auf das letzte Jahr haben wir bei unseren Veranstaltungen aber eher das Gegenteil festgestellt. Die meisten Leute geben sich mit der undifferenzierten Gleichung "IslamTerrorismus" nicht zufrieden, sondern sind interessiert an einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Islam. Es reicht aber nicht, nur über den Islam zu reden. Wichtig ist auch, mit Muslimen zu reden. Möglichkeit zu solchen Begegnungen gibt es in der Schweiz ja genug: Muslime sind unsere Nachbarn oder Arbeitskollegen. In persönlichen Begegnungen mit ihnen können auch bestehende Ängste und Vorurteile "wegerlebt" werden.

Datum: 30.09.2002
Quelle: Kipa

Werbung
Livenet Service
Werbung