Die Chancen der Krise

Willow Creek greift den Stier bei den Hörnern

Bis vor zwei Jahren stand Willow Creek als US-Gemeinde und als Bewegung in Deutschland und der Schweiz für innovative Gemeindearbeit. Dann kam der Missbrauchsskandal um den ehemaligen leitenden Pastor, Bill Hybels. Vor wenigen Tagen fand nun der erste Kongress «danach» statt. Und die Mannschaft von WillowCreek hat es eindrucksvoll verstanden, die eigene Krise zum Thema zu machen, aus dem jeder etwas lernen kann.
Steve Gillen (li.), Willow Creek-Pastor aus den USA, und Ulrich Eggers, 1. Vorsitzender von Willow Creek Deutschland, bei der Pressekonferenz (Bild: Willow Creek Deutschland)
Ulrich Eggers (Bild: Willow Creek)
Daniela Mailänder

Die Stimmen der Teilnehmenden im Vorfeld des Leiterkongresses 2020 in Karlsruhe vom 27. bis 28. Februar 2020 waren durchaus gemischt. Kerstin meinte: «Mein erster Gedanke war, nicht zum Kongress zu fahren. Ich habe mich dann doch dafür entschieden – wenn auch mit gemischten Gefühlen.» Für André war die Sache klar: «Das war ein Problem in Amerika und hat nichts mit uns hier zu tun.» So machten sich viel der gut 10'000 Teilnehmenden (davon 7'400 in Karlsruhe) ihre Gedanken.

Im Nachgang geht der Kongress wohl hauptsächlich als erste christliche Grossveranstaltung Deutschlands in die Geschichte ein, die abgebrochen wurde, weil «einer der geplanten Sprecher positiv auf den Coronavirus getestet wurde». Doch trotz dieser Sicherheitsmassnahme betonte Ulrich Eggers, erster Vorsitzender von Willow Creek Deutschland: «Wir haben einen vitalen Kongress erlebt.»

Von Selbstkritik zur Hilfestellung

Diese Meinung teilten viele der Teilnehmenden. Und sie waren überrascht, wie offensiv, selbstkritisch und gleichzeitig herausfordernd die Rednerinnen und Redner die eigene Krise zum Thema machten. Das begann mit der ersten Ansage von Eggers direkt nach der Begrüssung zu Beginn des Kongresses. Er sprach vom Misbrauchsskandal, dem falschen Umgang mit den Opfern und den bohrenden offenen Fragen. Und er hielt fest: «Karlsruhe ist kein Aufarbeitungskongress – aber wir werden uns in drei Einheiten auch mit den Themen Machtmissbrauch, sexueller Missbrauch und Krisenerfahrungen beschäftigen.»

Auch im Rahmen eines Pressegesprächs ging eine Reihe der Willow-Creek-Verantwortlichen und Referenten auf Fragen rund um den Umgang mit Krisen ein. Dabei betonten sie etliche eigene Erfahrungen und Einschätzungen, die sich für den Umgang mit vielen (eigenen) Krisen eignen. (Eigentlich sollte an dieser Stelle ein Bericht über den Vortrag von Steve Gillen stehen – «Vergeude niemals eine Krise» –, doch dieser fiel der Corona-Krise zum Opfer…) Die folgenden Punkte greifen einige Aspekte heraus, ohne sie vollständig darzustellen.

Krisen klären die Blickrichtung

Ulrich Eggers stellte klar, dass es heute nicht unbedingt mehr Krisen gibt als zu anderen Zeiten, wir sie aber als allgegenwärtiger wahrnehmen, weil gerade vieles an allgemeinem Konsens wegbricht und Vertrautes verschwindet. In dieser Situation zeigen uns Krisen, worauf wir ein Augenmerk legen müssen.

Zu Beginn seiner Verlegerkarriere gab er ein Buch heraus: «Geld, Sex und Macht». Und jeder meinte: «Das sind ganz wichtige Themen.» Und heute? Heute sind wir derselben Meinung – aber wir haben in den Jahrzehnten dazwischen wenig dazugelernt. Eggers betonte: «Wir reden nicht gern darüber.» Eine Krise zwingt uns allerdings, das Ganze neu in den Blick zu nehmen. Sie ist noch keine Garantie dafür, dass das jeweilige Thema ausreichend bearbeitet wird oder gar Veränderung geschieht, aber sie setzt erst einmal einen Fokus darauf und lässt uns reden.

Den Übergang gestalten

«Eine Krise an sich ist immer erst einmal ein Markierungspunkt von einem Übergang», meinte Daniela Mailänder (Referentin für Fresh X). Das kann schmerzlich sein oder sogar beglückend, wie zum Beispiel die Einschulung eines Kindes.

Gesellschaftlich stehen wir gerade vor mehreren solcher Krisen: Einer ist sicher der digitale Wandel mit seinen Herausforderungen. Ein anderer ist, dass wir gerade als christliche Kirchen bis jetzt zu wenig auf eine Gleichstellung von Männern und Frauen geachtet haben. Ja, das ist eine Krise – aber es markiert eben auch den Übergang in eine andere Zeit mit einer anderen Wahrnehmung.

Krisen sind unvermeidbar

Als Unternehmer brachte Patrick Knittelfelder (Hotelier und Gründer der HOME Mission Base Salzburg) den gar nicht selbstverständlichen Gedanken ein, dass Krisen unvermeidbar sind: «Die Frage ist nur, wie ist mein Leadership aufgestellt und schau ich dahin, wo Challenges sind, oder lasse ich alles laufen?» Die Geschichte von Firmen wie Nokia oder Kodak, die Krisen und Veränderungen aussitzen wollten, zeigt eindrücklich, was dann passiert: Es gibt die Unternehmen nicht mehr. Aufgabe einer Leiterin oder eines Leiters ist es also hinzuschauen, Schwachstellen zu sehen, im wahrsten Sinn des Wortes früh aufzustehen – und dann zu reagieren. Eine Lösung erwächst nie daraus, dass man denkt: «Es wird schon nicht so schlimm kommen… Je eher man eingreift, desto besser hat man seinen Laden im Griff.»

Krisen als Lernfelder

«Jede Krise, ob in Ehe, Familie oder Gemeinde, macht deutlich: Wir haben nicht aufgepasst und das Ziel verfehlt», das stellte Steve Gillen (Interimspastor der Willow Creek Community Church Chicago) heraus. Wer eine Krise nicht ignoriert, sondern sie bearbeitet und gemeinsam hindurchgeht, wird daran wachsen und währenddessen sogar gute Beziehungen aufbauen. Dabei betonte Gillen allerdings auch: «Lasst uns daraus lernen und Dinge verändern.»

Und dieser Lernprozess beginnt bei ihm mit dem Eingeständnis, dass sie als Mitleiter Bill Hybels auf Ungereimtheiten hätten ansprechen müssen – was sie nicht taten, da sie das angebliche Klima des Erfolgs nicht stören wollten. Wenn man ans Vermeiden zukünftiger Krisen denkt, ist es also elementar, eigene blinde Flecken zu entdecken, und für gesündere Strukturen zu sorgen. Dieser neue Rahmen macht Sünde nicht ungeschehen und kann sie auch in Zukunft nicht absolut verhindern, aber er unterstützt einen neuen Umgang mit Problemen und beugt weiteren Katastrophen vor.

Denken ohne Denkmäler

Dorothée Wenzel (Pädagogin und Theologin) erzählte, dass sie von den Missbrauchsvorwürfen gegen den ehemaligen Hauptpastor der Willow Creek Gemeinde schockiert war. Doch sie schränkte ein: «Für mich sind bekannte Leiterinnen und Leiter Vorbilder in einzelnen Aspekten – und das bedeutet, dass sie für mich auch immer hinterfragbar sein müssen.» Nicht nur im Fall von Bill Hybels spielten Idealisierung und Glorifizierung eine wichtige Rolle. Er stilisierte sich zum unfehlbaren Superpastor – er wurde aber auch dazu gemacht. In dem Masse, wie wir uns als Leiterinnen, Leiter und Gemeindemitglieder auf Augenhöhe und ohne falsche Ehrfurcht begegnen, können wir den oben erwähnten Versuchungen Macht, Geld und Sex begegnen.

«Was ist denn noch Willow?»

Ergänzend hielt Ulrich Eggers ein Plädoyer gegen magisches Denken, was sich manchmal so äussert: «Wow, Willow ist eine Art magische Abkürzung. Man muss es nur nachmachen und schon explodiert die Gemeinde… Nein: Willow ist harte Arbeit.» Aber für wen Willow ein Trick ist, für den ist nach der Krise das Ganze auch ein magischer Verlust. So sind viele Dinge, die Hybels gesagt hat, nicht im Nachhinein entwertet, sondern immer noch ein Segen für Menschen. Und wer fragt: «Was ist in dieser Situation noch Willow?», stelle die falsche Frage, weil es nie um Willow ging. Eggers: «Es geht um Leitung, es geht um das persönliche Charakter-Bauen, um Integrität – und das ist harte Arbeit.»

Ein Wunsch zum Schluss

Abschliessend formulierte Steve Gillen als Wunsch für die Kongressteilnehmer, «dass jeder Leiter eine Kultur aufbaut, in der Männer und Frauen gemeinsam mit Respekt voreinander leiten, eine Kultur, in der Wahrheit gesprochen wird, wo wir uns nicht vor unseren Problemen verstecken, sondern sie offen ansprechen, angehen und gemeinsam Lösungen finden».

Das begann bereits in Zeiten der Apostelgeschichte, wo die erste Gemeinde auf eine Versorgungskrise reagieren musste, und hört mit dem Missbrauchsskandal in Chicago noch lange nicht auf. Natürlich lässt sich auch an der Aufarbeitung der Krise von Willow Creek Kritikwürdiges finden. Warum zum Beispiel waren es fast nur Männer, die darüber sprachen? Warum kamen Verantwortliche zu Wort und keine Betroffenen? «Trotzdem, es ist ein erster Schritt in eine gute Richtung», so fasste jedenfalls Teilnehmer Harald den Kongress für sich zusammen. So wie er empfinden sicher viele. Und nehmen gleichzeitig alle Anregungen mit nach Hause, die eigenen Krisen bei den Hörnern zu packen.

Zum Thema:
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Datum: 08.03.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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