Jüdisch = gesetzlich?

Warum die Juden gar nicht so gesetzlich sind wie ihr Image

Die Israeliten empfingen auf dem Sinai das Gesetz. Doch macht sie das auch «gesetzlich»? Heisst das automatisch, dass sie sich alle durchs buchstäbliche Einhalten von Regeln ihre Rettung verdienen wollten? Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Orthodoxeer Jude liesst Psalmen

Wenn Christen sich zu Israel und den Juden äussern, dann bewegt sich dies oft zwischen zwei Polen: einer unreflektierten glühenden Verehrung und einer vehementen Ablehnung wegen der scheinbaren Gegnerschaft, die sich in einer erstarrten Gesetzlichkeit zeigt. Natürlich lassen sich für beides Belege finden. Allerdings auch für ein Judentum, das offen war und ist für Veränderungen. Dessen Identität viel mehr von Diskussion geprägt ist als von Festschreibungen.

Mose – Zurück in die Zukunft

«Zurück in die Zukunft» ist eine Filmreihe aus den 90er-Jahren. Doch die jüdische Tradition geht davon aus, dass auch Mose, der Empfänger des Gesetzes, einen Blick in die Zukunft werfen konnte. Der Midrasch, der nach der Auslegung biblischer Texte sucht, erklärt: «Als Mose zum Himmel fuhr, fand er den Allmächtigen damit beschäftigt, jeden einzelnen Buchstaben der Torah mit Blümchen und Zeichnungen zu zieren. Mose fragte Gott, was er da tue, und Gott antwortete, dass in einer der künftigen Generationen ein Mann sein werde, der aus jedem einzelnen Zug der Feder Haufen von Regeln herleiten werde: Akiba ben Josef. Da wünschte sich Mose, den Mann zu sehen, was ihm auch versprochen wurde. Die Tage des Akiba kamen und Mose besuchte dessen Schule, setzte sich in die hinteren Reihen und hörte zu. Er verstand aber die gelehrten Argumentationen nicht und wurde mehr und mehr bestürzt. Als sich ein schwieriges Problem stellte und ein mutiger Schüler Akiba fragte, woher er die Autorität nehme, um seine Regel herzuleiten, antwortete der Rabbi: 'Es ist eine Vorschrift des Moses, aus dem Sinai'. Da wurde Mose wieder stolz und munter.»

Rabbi Akiba – Wer ist das eigentlich?

Rabbi Akiba gehört zu den bedeutendsten Vätern des rabbinischen Judentums. Er lebte von 50 (oder 55) nach Christus bis 135, wo er unter Kaiser Hadrian für seinen Glauben hingerichtet wurde. Die oben erzählte Geschichte ist mehr als eine fromme Legende über sein Leben – sie charakterisiert das jüdische Denken insgesamt. Im Gegensatz zu vielen glaubensmässigen «Festschreibungen» ist das Judentum nämlich eine Religion kühner Neuerungen, eines liberalen Gebrauchs der Bibel und der Bereitschaft, sich von einer scheinbar ursprünglichen Absicht permanent weiterzuentwickeln.

Ein deutliches Beispiel mag das angeordnete (gesetzliche) Steinigen von ungehorsamen Kindern sein. Im 5. Buch Mose steht: «Wenn jemand einen widerspenstigen und störrischen Sohn hat, der der Stimme seines Vaters und seiner Mutter nicht gehorcht und ihnen auch nicht folgen will, wenn sie ihn züchtigen, so sollen sein Vater und seine Mutter ihn ergreifen und zu den Ältesten seiner Stadt führen und … dann sollen ihn alle Leute seiner Stadt steinigen, damit er stirbt» (5. Mose, Kapitel 21, Verse 18-21).

Rabbi Akiba jedoch erklärte – zusammen mit etlichen anderen jüdischen Auslegern –, dass dieses Gebot nur in der Torah stehe, um zu verhindern, dass es je ausgeübt würde. Die Rabbiner bearbeiteten die Bibel nie, aber sie unterstrichen immer wieder das, was im Neuen Testament so klingt: «Der Sabbat (das Gesetz) wurde um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats (des Gesetzes) willen (Markus, Kapitel 2, Vers 27). Tatsächlich stellten sie sich damit auf die Seite von Jesus – und gegen eine exklusive (= ausschliessende) Auslegung.

Jesus – Er kam nicht, um «das» zu beenden

Jesus war der erste Christ und er zog einen Schlussstrich unter die jüdische Gesetzlichkeit. Das hört sich vielleicht gut an, aber es stimmt so nicht. Denn Jesus war und blieb ein Jude. Und er kam, um Menschen in seine Nachfolge zu rufen, und nicht, um das Judentum an sich zu korrigieren. Das zeigt sich unter anderem daran:

  • Tatsächlich entwickelten die Juden die Midrasch (die Erläuterungen zur jüdischen Bibel) bereits lange vor dem Neuen Testament. Das NT ist voller rabbinischer Gedanken, die im AT so nicht zu finden sind. Um das Neue Testament richtig zu verstehen, muss man sich diese Veränderung und Entwicklung im Judentum bewusstmachen.

  • Die Verfasser des Neuen Testaments gingen nicht gesetzlich, sondern recht locker mit dem ursprünglichen Text des Alten Testaments um. Was im NT als schlüssiges Argument dargestellt wird («Da stand er [Josef] auf, nahm das Kind und seine Mutter bei Nacht mit sich und entfloh nach Ägypten. Und er blieb dort bis zum Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten geredet hat, der spricht: 'Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen' – Matthäus, Kapitel 2, Verse 14-15) klingt im alttestamentlichen Original sehr anders: «Als Israel jung war, liebte ich ihn, und aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen» (Hosea, Kapitel 11. Vers 1). So wird an vielen Stellen deutlich, dass es einen deutlichen Bezug zwischen Altem und Neuem Testament gibt, dass er aber nicht so stringent ist, wie es zunächst den Anschein hat.

  • Im Endeffekt setzten die Verfasser des Neuen Testaments alles daran zu erklären, dass der Rabbi Jesus der Gemeinde die gleiche Autorität verlieh, die die Rabbiner beanspruchten. Ein typisches Beispiel dafür ist die Aussage von Jesus: «Ich will dir die Schlüssel des Reiches der Himmel geben; und was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein; und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein» (Matthäus, Kapitel 16, Vers 18). Dieses Binden und Lösen bezieht sich auf den Umgang mit den überlieferten Lehrmeinungen. Und bei diesen hat sich einiges verändert.

Viele Christen heute betonen, dass sie unverrückbar auf der Basis des Wortes Gottes stehen. Mit einer solchen Aussage sind sie tatsächlich mindestens so fixiert wie orthodoxe Juden zur Zeit von Jesus. Trotzdem würden sie sich nicht als «gesetzlich» bezeichnen. Doch einen Umgang mit Gottes Regeln und Geboten, der die eigene Nachfolge und Leistung ganz nah an Gottes Angebot der Rettung heranrückt, gibt es tatsächlich zu jeder Zeit. Er ist unter Juden verbreitet – und unter Christen. Gesetzlichkeit gibt es also nicht nur im jüdischen Kontext. Tatsächlich ist dort vieles freiheitlicher, als es das christliche Klischee behauptet.

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Datum: 23.04.2019
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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