Pierre Wome – Sündenbock der Nation

Der unglücklichste Fussballer der Welt: Pierre Wome nach dem verschossenen Elfmeter.
Wome bei Inter Mailand.

Haus und Auto wurden ihm angezündet, die Familie steht unter Polizeischutz. Der Grund: Beim Fussballspiel gegen Ägypten hatte er einen Elfmeter verschossen. Ein anderer musste wegen vergebener Penaltys sogar sterben.

Es hätte der goldene Schuss an die WM in Deutschland sein sollen. 1:1 steht es an jenem denkwürdigen Samstagabend, dem 8. Oktober, im Qualifikationsspiel zwischen Kamerun und Ägypten. Es ist Nachspielzeit im Stadion von Jaunde, der Hauptstadt Kameruns. Und es schaut so aus, als wäre der Traum einer WM-Teilnahme bereits geplatzt. Denn Kamerun braucht einen Sieg. «Die Löwen», eines der besten Teams von Afrika, stehen vor dem Ausscheiden. Gegen Ägypten muss ein Sieg her, ein Unentschieden reicht nicht. Nur mit einem Sieg fährt das Team an die Fussball-WM.

Und da kriegt Kamerun in der 94. Minute (!) einen Penalty. Das späte Happyend steht bevor. Ein Elfer. Das ist zu machen. Pierre Wome legt sich den Ball zurecht. Mehrere seiner Kameraden hatten gekniffen; Wome übernimmt die Verantwortung.

Eine Nation unter Schock

Doch Sekunden später stirbt Kameruns Fussball-Seele. Der Ball landet nicht in den Maschen, sondern knallt an den Pfosten. Der «Löwe» ist erlegt. Wome hat sein Team aus der WM gekippt. Jetzt fahren andere nach Deutschland. Ein Horror.

Pierre Wome hätte zum WM-Helden werden können. Zehn verpasste Zentimeter machen ihn nun zur tragischen Figur. Die Wut des ganzen Landes richtet sich gegen ihn. Aufgebrachte Fans zünden sein Haus an. Und sein Auto. Frau und Sohn werden unter Polizeischutz gestellt. Wome muss um sein Leben fürchten. «Sie wollten mich töten», erklärt er bei der Rückkehr ins Trainingscamp seines Klubs Inter Mailand.

Gejagter Wome

Bis zur 80. Minute lagen die «Löwen» in Führung. Das WM-Ticket war bereits gelöst. Dann kam der Gegentreffer der Ägypter. Nach diesem überraschenden Ausgleich führten die Schwarzafrikaner eine Angriffswelle um die andere. Und dann der Elfer-Pfiff. Der rote Teppich zur WM 2006 war damit ausgerollt – Wome liess ihn wieder einpacken. Ein verhängnisvoller Fehlschuss stürzte das ganze Land in Rage und Depression. Wütende Fans stellten Wome in der Stadt nach.

Zitrone für Wome

Das ganze Spiel über hatte Wome gekämpft. In einer einzigen Szene machte er einen Fehler. Und jetzt ist er Buhmann und Sündenbock der Nation. Klar, einen solchen Strafstoss versenkt man ja schlicht und einfach ... Sagt man.

Ein brutales Gewitter schlägt über Wome zusammen, ihm, dem vermeintlich Alleinschuldigen an dieser Niederlage. Doch bis zur 80. Minute lag Kamerun 1:0 vorne. Eine höhere Führung konnte die gesamte Mannschaft nicht erreichen. Sonst hätte jener Strafstoss nie die alles entscheidende Bedeutung bekommen.

In diesen Gefühlswallungen geht rasch eines vergessen: dass nämlich jeder von uns schon Penaltys verschossen hat, beruflich oder privat. Die meisten werden nicht so hochkarätig sein wie dieser Elfer. Einzelne kommen aber sicher an ihn heran. Bei anderen Menschen hecheln wir gerne durch, was sie wann falsch gemacht haben. Zurückhaltender sind wir bei den eigenen Fehlern, bei den Elfmetern, die wir selber verballert haben. Vor hoffentlich kleinerem Publikum.

Der Penalty-König

Auf verschossenen Penaltys herumzureiten – auf eigenen oder denen von anderen – ist ein Wühlen in der Mülltonne. Buhrufe(r) braucht es nicht. Denn einer hat unsere missratenen Elfer in Ordnung gebracht. Er hat die Penaltys ertragen. «Er trug unsere Penaltys, damit wir ins Endspiel kommen», steht in der Bibel. Wir haben danebengeschossen, und der ganze Zorn könnte deswegen über uns hereinbrechen. Aber für diese «Penaltys», auf deutsch: «Strafe», hat sich Jesus Christus lynchen lassen.

Er war damals kein Penalty-König, und es gab kein Stadion, das ihm zugejubelt hätte. Auch keine Gegenspieler, mit denen er sein Trikot hätte tauschen können. Im Gegenteil: Er wurde verhöhnt, und um seine Kleider wurde gewürfelt. Es war ein ausgesprochen hartes Heimspiel. Doch der Triumph war umso grösser. Es war ein Befreiungsschlag.

Früher mussten die Menschen selbst für ihre verschossenen Elfer büssen. Heute kann man sie ihm abgeben. Er hatte einmal den Kopf dafür hingehalten. Und er tut das weiter. Das befreit. All die verpassten entscheidenden Momente unseres Lebens: er nimmt sie ab. Er versenkt sie im Netz der Ewigkeit, «im tiefsten Gnadenmeer», sagt die Bibel. Man braucht nur auf ihn zugehen.

Datum: 27.10.2005
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

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