Das erwählte Fussballervolk

Brasil
Jorginho
«Adhemar» Ferreira de Camargo Neto
Zé Roberto
Cacau
Paulo Sergio

"Als Gott die Brasilianer schuf, muss er einen wirklich guten Tag gehabt haben". Der gemeine Brasilianer an sich wird diese Behauptung ohne zu Zögern unterschreiben.

Wahrscheinlich fallen die Neugeborenen am Zuckerhut in Obelix-Manier erst mal in einen Topf voller Selbstbewusstsein - und so gehen sie dann auch durchs Leben: Schön, rassig, frech, spontan und stets gut gelaunt.

Für deutsche Verhältnisse oft etwas zu unorganisiert, verstehen es die "liebevollen Chaoten", gekonnt ihre Schwächen mit Humor zu kaschieren: "Ordnung und Fortschritt" haben sie sich ausgerechnet auf ihre Nationalflagge geschrieben. Mit genau diesem Charme und Augenzwinkern wurden die Brasilianer schon früh zu Lieblingen der Bundesliga; denn sie spielen auf dem grünen Rasen nicht "Ordnung und Fortschritt", sondern einfach nur das, was sie im Blut haben: Samba.

"Deutschland ist kalt"

Meine erste Begegnung mit einem Samba-Kicker findet 1994 statt. Ich besuche den frischgebackenen Weltmeister Jorginho in München, um mit ihm eine Reportage über "Fussballer und Gott" zu drehen. Was mir damals sofort auffällt, ist die bescheidene Art zu leben. Keine Villa, wie ich es bei einem solchen Fussballstar erwartet hatte, sondern eine schlichte Wohnung in einem ganz normalen Viertel. Etwas, das ich später auch bei weiteren Besuchen im Hause Adhemar, Zé Roberto, Sergio, Bordon und Cacau zu sehen bekommen sollte.

Brasilianer scheinen nicht viel zum Leben zu brauchen, doch das Wenige vermissen sie in Deutschland um so mehr. Jorginho führt mich voller Stolz in seinen Keller, um mir etwas "Besonderes" zu zeigen. "Motorrad oder Flipper, vielleicht ein Billiardtisch", denke ich mir. In einem ziemlich leeren Raum steht lediglich ein Video-Projektor, an der Wand ein Sofa, sonst nichts. "Hier sitzen wir immer, wenn wir Heimweh haben", erklärt Jorginho, knipst das Licht aus und startet den Film. Auf zwei mal drei Metern schauen wir uns verwackelte Aufnahmen von der Copa Cabana an. 20 Minuten lang! Brasilianer vermissen die Wärme und die Sonne ihrer Heimat.

"Nach Hause"

"Katastrophe", ruft Adhemar mir grinsend zu, als er nach 2 Stunden Regen-Training bibbernd in die Kabine sprintet. Es ist Januar, und Herr Ferreira de Camargo Neto kommt selbst nach einem Jahr Stuttgart mit der Kälte nicht klar. Noch schlimmer für ihn ist die Tatsache, dass seine Familie noch weniger damit zurecht kam und das eisige Schwabenland bereits vor Monaten verliess. Wenigstens kann er wieder lachen, als er mir erklärt, dass seine Frau ihn immer extra vom Swimming-Pool aus anruft, um ihn wieder zurück nach Sao Paulo zu locken. In Brasilien ist er als DJ und Komiker einer beliebten TV-Soap sehr bekannt. Hier in Stuttgart kennt man ihn wegen seiner 3 Tore im allerersten Spiel. Doch das ist schon so lange her, und Tore helfen nicht gegen Einsamkeit. Seine beiden Kinder fehlen ihm. Das schlägt auf die Stimmung. Lange keine Tore mehr geschossen. Alleine ist alles noch mühsamer. Die Sprache fällt ihm nach wie vor schwer. Auf einer Pressekonferenz fragt ihn ein Journalist, was er denn machen würde, wenn er im Himmel seinen Trainer Felix Magath (der ihn zum Ersatzspieler degradierte) wieder sehen würde. "Ich würde ihn auf die Auswechsel-Bank setzen", lautet die verschmitzte Antwort.
Als seine Familie es dann endlich schafft, ihn nach eineinhalb Jahren wieder vom VfB loszueisen, hat er wenigstens ein astreines schwäbisch zum Abschied parat: "Adele!"

"Fleisch, Friseur und eine Massage"

"Fünf Stunden hat es gedauert und nur 60 Euro gekostet", den Kopf voller schwarzer Kugeln erklärt mir Zé freudig, wie er zu seiner neuen Frisur gekommen ist. "Die Kappe ziehe ich lieber nicht auf, das zerstört die Röllchen".

Wär ja auch blöd, bei einer solchen sensationellen Frisur eine langweilige Kappe aufzusetzen. Die Noppen auf Zé Robertos Kopf stehen im Mittelpunkt unseres Foto-Shootings für das Buch "Fussball Gott". Das Handy klingelt ununterbrochen - für den Fotographen kein Problem, sondern ein authentisches Motiv für den Beleg, dass Brasilianer wie einst E.T. unter Telephonitis leiden. Eine teure Art und Weise, das Heimweh zu therapieren. Als wir später beim Mittagessen sitzen, entdecken wir ein weiteres Indiz dafür, dass Brasilianer fleischfressende Pflanzen sind. "Churasceria" heisst das Zauberwort. Wenn Du einen Brasilianer darauf ansprichst, bekommt er sofort ganz feuchte Augen. Zé erklärt uns, dass man sich zu Hause in Brasilien in einer "Churasceria" für ganz wenig Geld das leckerste, knusprigste Fleisch bestellen kann und solange essen darf, bis man nicht mehr kann. Eine echte Marktlücke in Deutschland.

"Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach", heisst es in der Bibel. Deswegen möchte Zé als tiefgläubiger Christ ja auch etwas für seinen Kopf tun. Ich weiss nicht, ob ihm die Idee beim Essen kam, zumindest rief er mich ein paar Wochen später ganz aufgeregt an und versuchte, mir von "dieser neuen Idee" zu erzählen. "Ich brauche eine Massage", verstehe ich als Erstes. "Nein, keine Massage, eine Message", versucht Zé zu erklären. "Eine Message?", frage ich ihn irritiert. "Ja, eine message auf Shirt - mit Jesus". Jetzt klingelts bei mir. "Ach Du willst einen Spruch auf Deinem Shirt haben?" "Ja, einen Spruch, etwas mit Jesus soll da stehen."

Zwei Spieltage später ist es so weit, und meine Frau ruft aufgeregt aus dem Wohnzimmer "Tor, David komm schnell. Ich glaube, der Zé hat ein Tor geschossen. Guck mal, der zeigt das neue Jesus-T-Shirt". "Nur komisch, dass die Nürnberger jubeln", denke ich. "Was steht da auf dem Shirt?" "Jesus lebt und liebt dich", kann man erkennen. "Das ist gar nicht Zé", stellen wir beinahe gleichzeitig fest und müssen lachen. Ein gewisser, bis dato unbekannter Cacau hat in seinem ersten Spiel für Nürnberg die gleiche Idee gehabt wie Zé Roberto auf der Gegenseite. Wenige Minuten später trifft Zé zum 1:1 Ausgleich und zeigt den völlig verdutzten Zuschauern und Nürnberger Spielern nun sein Shirt unterm Trikot: "Jesus liebt dich!" Jubel in der Bay Arena und in unserem Wohnzimmer - "Klasse Tor!". Als es so kommt, wie es kommen muss, schauen meine Frau und ich uns nur noch kopfschüttelnd an: Cacau hat wenige Minuten später schon wieder zum 2:1 getroffen und zeigt erneut sein Jesus-Shirt. 3 Tore für Jesus, noch besser als eine "Massage" und alles ohne Absprache - der Fussball schreibt verrückte Geschichten und Bayer gewinnt mit 4:2.

"Prediger bei Mc Donalds"

Da steht er nun vor seiner Gemeinde und predigt. Bereits eine Stunde lang und ohne Spickzettel spricht Paulo Sergio über die biblische Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin - es geht um das Thema Schuld.

70 gespannte Augenpaare sind auf Paulo Sergio gerichtet. Es herrscht eine konzentrierte Aufmerksamkeit unter den meist brasilianischen Besuchern der "Igreja Evangelica Brasiliera", wie sie sich wohl mancher Münchner Pfarrer Sonntag morgens wünschen würde.
"Ich hoffe, dass unter euch keiner ist, der tatsächlich den ersten Stein schmeissen würde", sagt Paulo und sieht seine Zuhörer grinsend an. "Aber ich weiss, dass es Menschen gibt, die das in dieser Situation damals getan und die Ehebrecherin verurteilt hätten. Aber wer kann denn von sich behaupten, dass er ohne Schuld ist? Wir wissen jedoch, dass Jesus für unsere Schuld gestorben ist, und deswegen sind wir hier alle Sieger. Ihr seid Sieger! Sagt es euch gegenseitig zu!"

In diesem Moment kommt Bewegung in die Gemeinde, und die meist jungen Zuhörer kommen "Pastor Sergios" Aufforderung nach, dem Nebensitzer mit einem lachenden "Voce é um vencedor" ("Du bist ein Sieger") etwas Ermutigendes zu sagen. Bei manchen wirkt das wie ein Trainer, der seinen Schützling anfeuert. Auch Merly, Paulos Frau, steht auf, um auf einige Freundinnen zuzugehen. Für die Brasilianer ist das wie eine Art Segen, den man über einem Anderen ausspricht.

Ich bin nach München gefahren, um Paulo bei seiner neuen Autogrammkarte zu helfen, und nun erlebe ich ihn zum ersten Mal als Prediger. Wer Paulo Sergio vom Fussballfeld kennt, mit seiner verrückten Art, jeden Torerfolg mit einer Jubelorgie zu feiern, der erkennt ihn hier nicht wieder.

Eine Ernsthaftigkeit in seiner Miene, die man sonst gar nicht von ihm kennt. Dabei haben Fussballer doch nichts Spannendes zu erzählen, sagt man. Und wenn sie einmal den Mund aufmachen, wird es gleich in einer kuriosen Sprüche- Sammlung festgehalten. Den Mann mit der Nummer 13 hier predigen zu hören, ist nicht weniger kurios.

Eine Stunde später sitzen wir alle gemeinsam in Grünwalds Mc Donalds. Lange Gottesdienste machen hungrig. Natürlich ist das hier keine Churasceria, aber die Stimmung ist trotzdem brasilianisch. 40 wild durcheinander gestikulierende Brasilianer schaukeln sich gegenseitig hoch. Paulo hat sich vor lauter Lachen verschluckt und muss ordentlich Cola Light nachkippen. Auch wenn ich die Gespräche nicht verstehe, wird es nicht langweilig, und Gesichter sagen ja auch sehr viel aus. Ich glaube, es geht gerade mal wieder um das schöne Wetter in Brasilien.

Autor: David Kadel
Quelle: www.fussball-gott.com (Das gleichnamige und empfehlenswerte Buch kann online besellt werden.)

Datum: 17.12.2003

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