Philipp Hadorn

Wie wir uns nicht behindern lassen

Eine Organisation braucht ein gutes Leitbild mit einer klar formulierten «Mission», wenn sie in unserer umtriebigen Zeit bestehen will. Dasselbe gilt auch für uns persönlich, meint der ehemalige Nationalrat Philipp Hadorn in seiner Kolumne.
Freiheit
Philipp Hadorn

Die Entwicklung von Visionen, Missionen und Leitbildern gehört zum Standard vieler Unternehmungen und Organisationen. In jüngster Zeit durfte ich mehrere solche Prozesse mitprägen. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich immer wieder die gleichen Fragen stellen: Was wollen wir wie und wofür tun? Und meist folgen dann im Austausch Grundsatzdebatten zu weshalb, warum und überhaupt...

Aus Betroffenheit

Als Politiker habe ich es öfters erlebt: Am Anfang steht ein nahes Ereignis, das die Gesellschaft bewegt. Ein Hund hat ein Kind gebissen. Folge: Wir brauchen ein Hundegesetz. Nach dem Supergau eines Atomkraftwerkes findet der Ausstieg aus der Atomkraft im Volk plötzlich eine Mehrheit. Im näheren Ausland toben kriegerische Auseinandersetzungen. Reaktion: Es beginnt ein Auf- und Wettrüsten in Ländern, die es sich leisten können.

Infos von Konflikten auf einem anderen Kontinent stossen hingegen kaum auf Interesse. Die Meldung über eine Hungersnot mit enormer Sterblichkeit auch unter Kindern? Sie bewirkt vielleicht eine kleine Spende. Klimaerwärmung und Naturkatastrophen interessieren nur dann, wenn nicht gerade andere Themen aktuell sind. Flüchtlinge sind dann bei uns willkommen, wenn akute Gefahr für unsere Sicherheit oder unseren Wohlstand drohen könnte.

Aus Solidarität

Es gibt aber auch einen anderen Ansatz. Die Dankbarkeit für die eigene materielle Sicherheit kann zum Teilen mit Bedürftigen führen. Die persönlich gute Gesundheit kann die Nachbarschaftshilfe und andere Unterstützung für Menschen mit momentanen oder anhaltenden Einschränkungen begünstigen. Die eigene Sicherheit durch Wohneigentum oder eine bemerkenswert grosse Wohnfläche haben auch bei uns nicht wenige dazu motiviert, ihren Platz zu teilen und Fremde aufzunehmen.

Das Glück, in unserm Land Glaubensfreiheit und persönliche Freiheiten zu erleben, kann die Achtung und Wertschätzung gegenüber Gleich- und Andersdenkenden und -glaubenden stärken. Die Aussicht auf viele Lebensjahre kann unsere Perspektive verändern und uns facettenreich grosszügiger werden lassen. Die Erfahrung des eigenen Versagens zeigt uns, dass wir Vergebung brauchen, vielleicht auch von Mitmenschen, und die Bereitschaft, selbst einen ersten Schritt zu wagen.

Aus Verantwortung

Unsere eigenen und kollektiven Ressourcen geben uns Gestaltungsmöglichkeiten und Möglichkeiten, um unsere Verantwortung wahrzunehmen. Zum Beispiel so:

  • mit Aktivitäten, um Spannungen und Konflikte zu vermeiden,
  • mit Umverteilung, um die Einkommensschere immer mehr zu schliessen,
  • durch Umweltschutz, um unsere Lebensgrundlage zu erhalten,
  • mit Gesundheitsschutz, um Krankheiten und Leid zu verhindern
  • oder mit Versicherungen, um Not gemeinsam zu tragen.

Aber weshalb bemühen wir uns eigentlich darum herauszufinden, was unser Denken, Fühlen und Handeln prägt? Ist es das Lüften eines Geheimnisses? Der Wunsch, den Sinn der eigenen Aktivitäten zu erforschen oder gar einen Lebenssinn zu finden?

Aus Berufung

Kürzlich las ich in der Bibel wieder einmal das Buch Jona. Jona war ein Mann, der Gottes Stimme hörte. Ein Mann, der von Gott einen klaren Auftrag bekam. Ein Mann, der Gottes Zorn und Erbarmen kannte oder zumindest erahnte. Ein Mann, der sich Gott verweigerte. Ein Mann, der von Gottes Kraft über «Wind und Wetter» wusste. Ein Mann, der sich von Gott einholen liess. Ein Mann, der beim Nachdenken über «Gott und die Welt» konfus und lebensmüde wurde. Ein Mann, der trotz und mit allem von Gott eingesetzt, gebraucht und für andere zum Segen wurde. Und dabei wohl auch selbst Segen erleben durfte.

Beim Nachdenken über diese Geschichte fühlte ich die Sehnsucht, selber eine so ganz konkrete, klare Berufung zu erleben. Nicht ein abgeleitetes Wissen, das Richtige zu tun. Nicht nur die Erfahrung, nach erbetenen Entscheidungen offene Türen zu nutzen und verschlossene zu meiden. Im Kern ist es vielleicht der Wunsch, neu Berufung zu finden und zu leben.

Visionen, Missionen und Leitbilder sind oft Dokumente, die aufzeigen können, welche Berufung eine Körperschaft hat und wie diese zu leben ist. Und wie läuft das für uns als Einzelne? Muss und darf die ganz konkrete Berufung für Körperschaften und für uns persönlich auch von uns geformt werden? Spiegelt dies vielleicht sogar einen Kern des Evangeliums?

«Durch Christus seid ihr dazu berufen, frei zu sein, liebe Brüder und Schwestern!» schreibt Paulus im Brief an die Galater. Direkt nachher heisst es dann: «Aber benutzt diese Freiheit nicht als Deckmantel, um eurem alten selbstsüchtigen Wesen nachzugeben. Dient vielmehr einander in Liebe.»

Aus Freiheit

Die Freiheit, selbst Entscheidungen treffen zu dürfen, den Segen Gottes dafür erbitten und erwarten zu können, ist vielleicht mindestens so viel Wert wie der konkrete «Auftrag Gottes».

Nach der Entwicklung eines Leitbildes zusammen mit einer mir vertrauten Organisation zur Eingliederung von Menschen mit Beeinträchtigung – früher Behinderung genannt – regte sich bei der Umsetzung starker Widerstand von aussen. Darauf reagierten wir mit einer Kampagne: Wir lassen uns nicht behindern!

Vielleicht ist das auch für uns ein guter Ratschlag: Gehen wir doch einen «betend eingeschlagenen Weg» weiter, auch bei vorhandenen Zweifeln, Unsicherheiten und/oder Widerständen. Die Erkenntnis von Jona lautet: «Ich wusste es doch: Du bist ein gnädiger und barmherziger Gott. Deine Geduld ist gross, deine Liebe kennt kein Ende.» 

Mir ist dies ein grosse Ermutigung, auch eine erahnte Berufung mit Herzblut zu leben. Ich lasse mich nicht (be-)hindern! Das wünsche ich auch Ihnen!

Zum Originalartikel von Forum Integriertes Christsein

Zum Thema:
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Erfahrungen als Wegweiser: Auf der Suche nach dem persönlichen Lebensauftrag

Datum: 03.06.2022
Autor: Philipp Hadorn
Quelle: Forum Integriertes Christsein

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