Bibelverse lernen? Warum nicht!

Das Wunder des autobiografischen Gedächtnisses

Die christliche Theorie sagt, dass es gut ist, einzelne Verse der Bibel auswendig zu lernen. Doch die Praxis zeigt, dass relativ wenige Christen das auch tun. Oft steckt allerdings nur die Unsicherheit dahinter, wie das funktionieren soll.
Bibel
Jessie Cruickshank

Hand aufs Herz: Wann haben Sie Ihren letzten Bibelvers auswendig gelernt? Also so, dass Sie ihn jetzt direkt wiedergeben könnten? «Kinder lernen einfacher, in meinem Alter ist das nicht mehr so leicht.» «Ich habe einfach keine Zeit dafür.» «Irgendwie sehe ich keinen Sinn darin.» «Ich hab' es schon einmal probiert, aber es hat nicht funktioniert.» Kennen Sie diese Äusserungen? Ich schon – von mir selbst. Dabei habe ich während meiner Bibelschulzeit um die 600 Verse auswendig gelernt. Danach kamen noch einige dazu, aber insgesamt verschwanden in den letzten Jahren mehr Verse aus meinem Gedächtnis als hineinfanden.

Die Bibel «im Herzen»

«Ich bewahre dein Wort in meinem Herzen, damit ich nicht gegen dich sündige» (Pslam 119, Vers 11) war einer der ersten Verse, die ich gelernt habe und bis heute kenne. Im Gegensatz zu einem angeordneten Auswendiglernen (wie im Konfirmandenunterricht oder bei mir in der Bibelschule), kann dieser Wunsch aus den Psalmen eine starke Motivation zum Lernen sein.

Sicher kennen Sie auch Geschichten wie die des Christen im Gipsbett, der wochen- und monatelang nicht in der Bibel lesen konnte, sich aber mit gelernten Bibelversen «über Wasser» hielt. Ähnliches erzählen Kriegsgefangene oder andere Menschen in Extremsituationen. Oft sagen sie dann: «Ich weiss nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich nicht so viele Bibelverse im Kopf gehabt hätte …»

Nun sind Berichte wie diese zweischneidig. Denn sie erzeugen eher ein leichtes Gruseln und den Eindruck «Gut, dass es mir nicht so schlimm ergangen ist», als die Motivation, jetzt einen Abschnitt aus dem Thessalonicherbrief auswendig zu lernen. Andererseits zeigen sie, dass ein bisschen Vorbereitung nicht schadet, denn in einer eventuellen Krise besteht dazu eventuell keine Möglichkeit mehr.

Damals und heute

Als die Jünger Jesus nachfolgten, waren sie darauf getrimmt, bei Aussagen zuzuhören und sie zu behalten. Auch wenn das Neue Testament danach aufgeschrieben wurde, stammt es doch aus einer Erzähl- und Hörkultur. Das hat sich heute radikal geändert. Ich kann zum Beispiel meine Handynummer auswendig, die meiner Frau ist bereits abgespeichert und viele alltägliche Zusammenhänge habe ich sozusagen «ausgelagert» – ich weiss, dass ich sie jederzeit im Internet nachschlagen kann. «Cognitive offloading» wird dieses Phänomen genannt. Sollte ich wirklich in einem Zeitalter, wo allein der Bibelserver elf deutschsprachige und zig weitere Bibelübersetzungen ständig parat hält, einzelne Verse auswendig lernen? Ich denke schon. Weil es nicht darum geht, eine neue Karteikarte in die Ablage «gelernt» zu schieben, sondern weil es eine echte Hilfe sein kann, Gott und mich selbst besser zu verstehen.

Lernhilfen

Wenn Sie es einmal versuchen wollen, Bibelverse zu lernen, finden Sie jede Menge Unterstützung. Die reicht von Apps wie «Remember Me» oder «Bible Memory App» (leider ist das meiste nur auf Englisch erhältlich) bis hin zu Kursen und Freizeiten des Missionswerkes Bibel-Memory, das es sich auf die Fahnen geschrieben hat, Gottes Wort dadurch zu verbreiten.

Die beste Unterstützung haben Sie allerdings bereits dabei: Ihren Kopf. Tatsächlich hilft ein bisschen Gedächtnisforschung dabei, Wege zu finden, wie man von sinnfreiem Pauken hin zu einem lebensverändernden Behalten findet. K. J. Ramsey zitiert dazu in ihrem Artikel über das Lernen von Bibelversen. Die Harvard-Professorin Jessie Cruickshank