Die Psyche und ihr Körper

Spiritualität und Spitzenmedizin

Mit «Religious Coping» wird im Englischen die Auseinandersetzung mit belastenden Ereignissen oder Erlebnissen bezeichnet, im medizinischen Bereich etwa mit einer Krebserkrankung. In den USA spricht man von «Religious Coping», wenn auch die spirituelle Dimension in den Behandlungsprozess einbezogen wird.
Der Mensch lebt nicht von der Medizin allein.

Der Arzt und Theologe Paul J. Manikonda, Facharzt für innere Medizin wurde durch seine Studie über die blutdrucksenkende Wirkung der Meditation bekannt. Die moderne Medizin mache rasante Fortschritte, «sie ist aber trotzdem ein wenig in die Sackgasse geraten, weil sie die Ursachen körperlicher Erkrankungen, die in der Seele liegen, ausklammert».

72 Prozent aller Erkrankungen seien psychologisch oder seelisch bedingt und könnten darum auch über diesen Weg behandelt werden. Das gelte sowohl für Herzerkrankungen oder Nierenversagen wie auch für einen Schnupfen, so der Arzt.

Ganzheitliche Medizin notwendig

Diese Erkrankungen könne man «mit ganz einfachen Mitteln wie christlich-kontemplative Meditationen oder Atemtechniken bewältigen», ist der Arzt und Theologe überzeugt, der in den USA studierte. Eine «ganzheitliche Medizin», welche bei der Analyse und Behandlung auch die möglichen spirituellen Ursachen einbeziehe, könne zur Senkung der Kosten in der Medizin beitragen.

Patienten sprechen das Thema an

René Hefti, Dozent für Psychosoziale Medizin in Bern, erläuterte, dass die Ärzteschaft anstrebe, vermehrt auch spirituelle oder religiöse Aspekte in ihre Arbeit zu integrieren.

In der Medizin spüre man deutlich, dass die Spiritualität ein Thema werde, meinte der Chefarzt für Psychosomatik an der Klinik SGM Langenthal. In der Klinik werden Krankheiten auf der Basis des christlichen Menschenbildes behandelt.

Patienten würden das Thema ansprechen, aber auch Ärzte und Wissenschafter. In Ärztezeitschriften tauchten vermehrt Artikel zu diesem Themenbereich auf, und auch an Kongressen würden die Ergebnisse dieser Forschung diskutiert.

Erst zu sich selber finden

Spiritualität bedeutet auch, sich Zeit nehmen für den Menschen. Haben Ärzte diese Zeit? Wenn es um die eigene Gesundheit gehe, dann verfügten die Ärzte über diesen Freiraum. In der Spitzenmedizin oder wenn Ärzte auf andere Weise an ihre Grenzen stossen, sei es nötig, sich diese Ruhe zu gönnen. Heute würden die Mediziner bewusster solche Auszeiten nehmen und zum Beispiel in einem Kloster die nötige Entspannung finden.

Es könne sein, dass ein Arzt zuerst selber die Erfahrung der Spiritualität machen müsse, um entsprechend auf Anfragen der Patienten reagieren zu können. Der Langenthaler Chefarzt ist überzeugt, dass es sinnvoll wäre, Spiritualität in den Ausbildungsplan für angehende Mediziner einzubauen.

In der Schweiz sei man diesbezüglich noch zurückhaltend. In den USA gehöre eine solche Ausbildung bereits zum «Curriculum» des Medizinstudenten. Sie lernten, Patienten auch nach ihren religiösen Hintergründen zu befragen. Die Studierenden würden auf das Zusammenspiel von Spiritualität und Gesundheit aufmerksam gemacht.

Verlangen nach Lebensverlängerung

Im Gegensatz zu den Medizinmännern beschwören die Ärzte heute nicht mehr den Geist der Krankheit, sondern untersuchten die Ursachen des Krankheitsgeschehens und bemühten sich, diesen die Schmerzen und die todbringende Wirkung zu nehmen, sagt Thierry Carrel, Direktor und Chirurg der Universitätsklinik für Herz- und Gefässchirurgie im Inselspital Bern. Je weniger sich der Sinn nach dem Dasein stelle, desto «verzweifelter wird das Verlangen nach Lebensverlängerung».

Der Arzt habe heute «buchstäblich die Pflicht, alles zu tun, um das schon gewonnene Spiel des Todes nach Möglichkeit noch einmal zu durchkreuzen». Die Erwartungen der Patienten nannte Carrel «unbeschränkt». Die Ärzte müssten in immer engeren und immer dichter vernetzten Zuständigkeitsbereichen ihren Auftrag erfüllen.

Menschlichen Umgang

Der Herzchirurg sieht Grenzen. Die Ärzte dürfen nicht als Götter in Weiss dastehen, sondern sich vermehrt als Menschen zeigen, die fühlen. «Alles ruft förmlich nach einem menschlicheren Umgang mit unseren Patienten», so der Arzt. Dagegen ständen die Kosten der teuren Medizin, der Finanzdruck der Krankenkassen und die demographische Situation in der Schweiz mit einer wachsenden Zahl immer älter werdender Menschen. Die Schere zwischen dem, «was wir menschlich erkennen», und dem, «was wir uns aus finanziellen Gründen leisten können», öffne sich immer mehr.

Theologie und Krankheit

Medizinische Themen und Beratungen seien bei den Medien beliebt, theologische Zusammenhänge zur Krankheit würden in den Massenmedien dagegen eher ausgeblendet. Carrel führte dies unter anderem auf die Scheu «der akademischen Theologen» zurück, «die Dinge so zu vereinfachen, dass sie publikumsgerecht» wirksam würden.

Früher war der Geistliche oft zugleich Heiler. Religion und Medizin war eins. Heute werde zwischen Religion und Wissenschaft sehr streng unterschieden. Die Wissenschaft schliesse «metaphysische» Merkmale aus. Die Mehrheit der Patienten vollziehe aber diese Trennung «nicht so scharf».

Seelsorgerliche Begleitung

Als positiv wertete Carrel, dass heute Ärzte an den spirituellen Bezug des Heilens erinnern können, ohne belächelt zu werden. Die frühere Verbannung der Religion aus der Medizin habe sich überholt. Bei der Behandlung mancher Krankheiten komme der seelsorgerlichen Begleitung oft eine grosse Bedeutung zu

Wenn ein Patient mit einer harten Diagnose konfrontiert werde, stelle sich - meist verbunden mit der Frage «Warum gerade ich?» - auch die Frage, warum Gott «so unermessliches Leid» zulasse. Die überlieferten Antworten der Religionen hätten an Überzeugungskraft verloren. Carrel: «Die Atheisten sehen in der Existenz des Leidens den stichhaltigsten Einwand gegen den Glauben an Gott.» Als ermutigend sieht es Carrel, dass der Weltkatechismus aus dem Jahr 1993 Leid und Krankheit aus einer menschlichen, und nicht mehr aus einer strafenden Sicht beschreibt.

Körper, Seele und Geist

Als Chefarzt einer akuten Abteilung mit sehr vielen lebensbedrohlichen Notfallsituationen möchte er nicht nur die Krankheit, sondern auch das Umfeld des Patienten kennen lernen, erklärte Carrel. Krankheit und Umfeld, also die vordergründige Hightech-Behandlung und die hintergründige psychologische Hinterfragung seien komplementär. Letztere hätte kaum Platz in der Akut-Medizin, wo sofort operiert werden müsse. Aber bei chronisch Kranken etwa genüge dieser «mechanistische Blick» nicht. Der Hightech-Horizont müsse erweitert werden mit der Erkenntnis, dass Körper, Seele und Geist «nicht so einfach getrennt werden können».

Hoffnung nicht mit «Lüge» strafen

In Todesnähe wirke das Prinzip Hoffnung. Es gehöre zum Wirken der Ärzte diese Hoffnung zu fördern, diese aber auch nicht «auf Lüge aufzubauen». Als ideal bezeichnete Carrel, wenn ein Mensch den letzten Teil seines Lebensweges mit einem «einfühlsam begleitenden Team» zurücklegen könnte. In Sterbezimmern könne es aber manchmal sehr einsam werden. In der heutigen «Gesellschaft von Siegern» habe der Tod einen Nebenschauplatz. In der Gesellschaft seien Niederlagen nicht vorgesehen, auch nicht beim Chirurgen, der Menschen reparieren oder dem Tod entreissen müsse. Wer im Krankenhaus oder Altersheim arbeite, habe vermutlich mehr Niederlagen als Siege zu verzeichnen.

Eine Therapie, die nicht mehr Heilung zum Ziel habe, müsse anders konzipiert werden. Die Kunst des Arztes werde auf einmal von Zurückhaltung geprägt. Der Faktor Zeit gewänne mehr Bedeutung. Carrel fordert im dem Fall mehr Demut und Ehrfurcht auf Seiten der Ärzte. Der Arzt müsse vom «Macher» zum Zuhörer und Wartenden werden.

Eigene Grenzen erkennen

«Wenn ich als Arzt an Gott oder an eine höhere Macht glaube, brauche ich nicht diesen Gott zu spielen, auch nicht für meine liebsten Patienten.» Es sei schwierig für einen Arzt, sich einzugestehen, dass man «nichts mehr machen soll, wo man nichts mehr machen kann».

Der andere Herzwechsel

Im Zeitalter atemberaubender Hightech-Fortschritte werde es immer schwieriger, sich an die alte, oft vergessene Devise christlicher Hospize «manchmal heilen, oft lindern, immer trösten» zu erinnern. Die Patienten sollten ihren eigenen Tod sterben und nicht jenen, den «ihnen die Ärzte aufgezwungen haben». Patientenverfügungen oder der Rat der Angehörigen sei dem Arzt in diesen Fällen beim Entscheid sehr dienlich.

Der Chirurg bedauert, dass in der Ärzteschaft die von ihm vorgebrachten Überlegungen über Spiritualität und Medizin eher weniger Resonanz fänden. Druck komme aber auch von den Patienten, die das Menschenmögliche für die eigene Behandlung einforderten.

Als Chirurg, der Herztransplantationen vornehme, fordere er einen «spirituellen Herzwechsel». Nur Menschen, deren eigenes Herz sich wandelte, können auch andere Herzen wandeln. Dieser Ansatz dürfte den Kreis um mehr Spiritualität nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Gesellschaft schliessen.

Datum: 10.06.2010
Quelle: Kipa

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