Tätig in der Beratung

Kein Sex im Job

Als die Jugendgruppenleiterin einer Kirchengemeinde Schwierigkeiten mit ihren Eltern bekommt, wird ihr der Pfarrer zum wichtigen Ansprechpartner. Er nimmt sich Zeit für lange Gespräche, bei ihm findet sie Unterstützung und Verständnis. Doch – aus Nähe wird Intimität.
Ein Abhängigkeitsverhältnis bei der Beratung, sollte nicht zu intime Beziehung führen.
Plötzlich ist man in in eine ungewollte Situation verstrickt.
Hinweis

Ihre Bewunderung für den Theologen wächst, die Nähe zwischen den beiden ebenfalls. Nach ein paar Monaten intensivem Kontakt beginnt eine sexuelle Beziehung.

Abhängigkeitsverhältnis

Als „klassische Missbrauchssituation“ bezeichnet der Düsseldorfer Landespfarrer Erwin Jabs diesen Fall, obwohl sich zwei erwachsene Menschen scheinbar freiwillig auf das sexuelle Verhältnis einliessen. „Genau wie in der Psychotherapie kann es in der Seelsorge ein Abhängigkeitsverhältnis geben“, sagt der Theologe und Psychologe, der die evangelische Hauptstelle für Familien- und Lebensberatung der rheinischen Kirche leitet.

Wer sich in einer persönlichen Krise an den Pfarrer wende, sei bedürftig, schwach und anfällig für Abhängigkeiten, betont Jabs. Ein professionell handelnder Theologe müsse wissen, dass eine intime Beziehung in einer solchen Situation ein schwerer Fehler wäre. Mit Vorträgen und Gesprächen sensibilisieren Jabs und seine Mitarbeiter die Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland für Grenzverletzungen in Seelsorgebeziehungen.

Alarmsignale wahrnehmen

In der Aus- und Fortbildung sei Prävention zunehmend wichtig, damit Theologen auch bei Anfechtungen strikt zwischen privater Situation und Dienstauftrag unterscheiden, erläutert Jabs und rät: „Anstatt achtlos und naiv in eine Missbrauchssituation zu schlittern, geht es darum, frühzeitig Alarmsignale wahrzunehmen und Fehlentwicklungen zu korrigieren oder aber die Seelsorge zu beenden.“ Der Pfarrer könne die Ratsuchende an einen Kollegen verweisen und sich selbst möglicherweise in einer Supervision Unterstützung holen.

„Kein Tabu-Thema mehr“

Das Verhältnis zwischen Jugendgruppenleiterin und Pfarrer dauert nicht lange. Doch es hat Langzeitwirkung. Unfähig, das Erlebnis zu verarbeiten, leidet die Frau unter Ohnmachtsgefühlen und Misstrauen. Sie wendet sich an das Frauenreferat der Landeskirche, ermutigt von einer im Januar erschienenen Broschüre mit dem Titel „Die Zeit heilt nicht alle Wunden“. Darin sind die Leitlinien der Rheinischen Kirche zum Umgang mit sexueller Gewalt zusammengefasst.

Sexuelle Übergriffe, die von vermeintlich harmlosen Grenzverletzungen bis zu schweren körperlichen und seelischen Verletzungen reichen, dürften weder tabuisiert noch bagatellisiert werden, betont die rheinische Vizepräses Petra Bosse-Huber. Und Jabs fügt hinzu, in der zweitgrössten deutschen Landeskirche seien die Zeiten endgültig vorbei, in denen aus falsch verstandener Kollegialität und auf Kosten der Opfer nach Wegen zur Vermeidung von Straf- oder Disziplinarverfahren gegen Pfarrer gesucht wurde.

Bei 2000 Theologen und 850 Kirchenbeamten werden jedes Jahr fünf mutmassliche Fälle im Landeskirchenamt aktenkundig. „Es handelt sich um Einzelfälle“, stellt Jabs fest, der auch die Dunkelziffer der Täter für nur unwesentlich höher hält. Katja Wäller, ermittelnde Juristin im Frauenreferat des Landeskirchenamts, berichtet, nach Erscheinen der Broschüre hätten sich die Anfragen Rat suchender Frauen verdreifacht.

Bei der Opferhilfe stellt die Kirche die vertrauliche Beratung in den Mittelpunkt. „Für viele Frauen ist es eine unglaubliche psychische Erleichterung, zum ersten Mal dem kirchlichen Dienstgeber des Pfarrers zu berichten, was ihr widerfahren ist“, sagt Wäller. Vielen genüge eine Aussprache, nur ein geringer Prozentsatz der Frauen entschliesse sich zu einer dienst- oder strafrechtlichen Anzeige.

Während die Juristin bislang jeden ihr bekannt gewordenen Missbrauch in der Kirche verfolgen musste, wird sie heute nur dann aktiv, wenn die Frau das explizit will oder wenn Kinder betroffen sind. Hier ermittelt die Kirche laut Wäller selbst dann, wenn der Fall schon Jahre zurückliegt: „Auch wenn der Pfarrer schon im Ruhestand ist, prüfen wir, ob er seine Amtspflichten verletzt hat.“

Hinweis: Die Broschüre "Die Zeit heilt keineswegs alle Wunden - Leitlinien zum Umgang mit sexualisierter Gewalt, kann bei: Martina Haun, Telefon 0211/45 62-360, E-Mail Martina.Haun@ekir-lka.de bezogen werden.

Pdf-Datei dazu: www.ekir.de/ekir/dokumente/

Quelle: epd/Livenet

Datum: 17.11.2004

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