"Die Religion aus dem Ghetto holen"

Marco Meier

"Man sagt, dieses Jahrtausend könne das religiöse Millennium sein. Nach einer Epoche des extremen Rationalismus und kalter Berechnung in der Wirtschaft spürt man die Geschichte kippen", meint Marco Meier, Redaktionsleiter des Sendegefässes "Sternstunden" von Schweizer Fernsehen DRS.

Durch eine ausgewogene Information wollten die "Sternstunden" die Gefahren und Chancen dieser Entwicklung aufzeigen. Im Gespräch betont er zudem, dass Religion mit dem Alltag verknüpft werden müsse. So könne aus der angeblichen Privatangelegenheit ein vertiefter öffentlicher Diskurs entstehen.

Hans Giezendanner: Das Thema Religion im Fernsehen DRS wurde vor zehn Jahren auf den Sonntagmorgen ausgelagert. Aus dem vermeintlichen Randdasein ist jedoch ein international beachteter Erfolg geworden. Weshalb?
Marco Meier: Das Entscheidende war, dass mein Vorgänger Erwin Koller die drei Bereiche Religion, Philosophie und Kultur zusammengebracht hat. Es entstand mit den 'Sternstunden' ein dreistündiger Raum, um über drängende Probleme aus verschiedenen Perspektiven nachzudenken. Dies war ein Geniestreich für eine Zeit, in der sich alles aufsplittert und die ganze Medienszene ein Tohuwabohu mit 1.000 Impulsen aus aller Welt ist. Dagegen setzte Koller auf Fokussierung, mit der man sich auf ein Thema einlassen und es vertiefen konnte.

Religion, Philosophie und Kultur sollen miteinander in Verbindung gebracht werden?
Die Gefahr besteht tatsächlich, dass man die Religion isoliert betrachtet. Sie muss heute in Verbindung mit der modernen Gesellschaft gesehen werden. Auch philosophische Fragestellungen können nicht mehr im Elfenbeinturm diskutiert werden. Wir wollen näher an die Aktualität kommen und auf das Tagesgeschehen reagieren. Dies, ohne den Hintergedanken des vertiefenden Suchens aus den Augen zu verlieren.

Sie möchten die grossen Themen der Menschheit anzusprechen. An welche denken Sie?
Vor einem Jahr hat der Irakkrieg unsere ganze Planung über den Haufen geworfen. Irgendwelche wunderbaren Religionsgespräche führen, ohne auf den Krieg zu reagieren, war für uns nicht möglich. So haben wir mit Religionssoziologen, Angehörigen des Islams, Islamwissenschaftlern und Ethikern die Kriegsproblematik erörtert. Weiter haben wir in mehreren Sendungen auf die neue Religiosität reagiert, die sich breit ankündigt. Da gibt es viel Hoffnungsvolles, aber es entstehen auch gefährliche Bedürfnisse, blindlings zu folgen. Diese Entwicklungen möchten wir begleiten.

Gehört zur neuen Religiosität auch der Film von Mel Gibson?
Ja, man kann ihn ignorieren und sagen, es ist Scharlatanerie. Man kann sich aber auch fragen: Gibt es eine Ebene, die uns interessieren muss? Darüber werden wir eine Sendung machen.

Auch bei den neu entstandenen Formen von Freikirchen versuchten wir herauszufinden, was diese Phänome bedeuten. Wir möchten durch ausführliche Information erkennen lassen, was gute und was schwierige Entwicklungen sind.

Sehr ausführlich hat Sternstunde Religion auch über die Zulassungsbedingungen zum Priestertum in der katholischen Kirche berichtet. Möchten Sie da goldene Brücken schlagen?
Ein wichtiger Teil dieser Sendung ist tatsächlich zu vermitteln. Wir haben diesen Sachverhalt von ganz verschiedenen Sichtweisen aus betrachten wollen. Dass das Interesse dazu vorhanden war, merkten wir an der mehr als doppelt so hohen Einschaltquote. Ein Erfolg dabei war, dass Bischof Koch in die Sendung gekommen ist. Er hat sich bei dem Gespräch erstaunlich weit hinausgelehnt. Er hat klar signalisiert, was der Bedarf in der Kirche ist, aber auch auf die bestehenden Grenzen hingewiesen. Journalistisch hätte man ihn härter angehen können. Aber in dieser Religionssendung möchten wir uns nicht mit möglichst hoher Aggressivität profilieren. Es geht darum, einen wirklichen Diskurs zu führen.

Dies scheinen die Gäste zu schätzen, haben doch früher laut Ihrem Vorgänger Koller gerade Bischöfe lieber ihre Pressesprecher gesandt...
In der Tat sind im letzten Jahr drei Bischöfe zu uns gekommen. Ich habe den Eindruck, dass bis hinauf in die höheren Ämter die Erkenntnis reifte: Es ist besser, sich selber der Situation zu stellen, als sich auf eine Vermittlung zu verlassen. Wo gibt es das schon, dass Interviewgäste in einem solch weiten Rahmen ihre Position darstellen dürfen? Wir sind froh, wenn man auch auf uns zugeht und Vorschläge an uns gelangen. Denn die Religion war zu lange eine Privatsache gewesen, die nicht öffentlich diskutiert wurde.

Dazu gehört wohl auch, dass Sie Beiträge über andere Konfessionen und Religionen ausstrahlen, wie in diesen Tagen der Streit um das Kopftuch oder über den orthodoxen Patriarchen. Welche Bedeutung haben diese Kulturen in der Sternstunde Religion?
In Zukunft wird der Anteil nichtchristlicher Religionen bei uns zunehmen. Es kann sein, dass wir dann auch regelmässig Gottesdienste anderer Glaubensrichtungen ausstrahlen. Dies machen wir jetzt schon mindestens einmal jährlich. Weiter ist es uns ein Anliegen, den interreligiösen Diskurs in unsere Themen einzubeziehen. Beim Kopftuch beispielsweise fragen wir uns auch, welche Bedeutung das Verschwinden der religiösen Zeichen bei den Juden und bei den Christen hat.

Mit dem neuen Sternstunde-Dekor wird das Anliegen untermalt, Religion mit dem Alltag zu verbinden. Können Sie die Bedeutung der Container näher erläutern?
Die Container sehen wir als Symbol für das Unterwegssein des Menschen. Sie sind in der Globalisierung unglaublich wichtig geworden als Transportmittel von schönen und schlechten Sachen. Hilfsgüter, Autos, Lebensmittel, Waffen oder gar Flüchtlinge werden darin fortbewegt. In einem modernen Sinn stellen sie den Marktplatz dar. Diesen möchten wir mit unseren Anliegen erreichen. Wir möchten uns nicht nur mit dem Schönen und Guten beschäftigen, sondern auch mit den alltäglichen Realitäten der Gesellschaft.

Welche Menschen bewegen sich auf dem 'Marktplatz' der Sternstunde?
Es ist ein bildungsbürgerliches, offenes Publikum zwischen 45 und 60 Jahren. Es hat im klassisch modernen Sinn Interesse an einer breiten Fragestellung. Alle zwei Wochen wird ein Gottesdienst übertragen. Dieser wird von Leuten mitverfolgt, die nicht selber in die Kirche gehen können oder das besondere Ambiente der Übertragungen schätzen.

Nicht erst seit Musicstar wird der Marktplatz 'Religion' in letzter Zeit von den Medien wieder vermehrt aufgegriffen. Wie sehen Sie diesen Trend?
Man sagt, das neue Jahrtausend könne das religiöse Millennium sein. Nach einer Epoche des extremen Rationalismus und mit einer Wirtschaft, die nur noch nach Zahlen fragt, spürt man nun die ganze Geschichte kippen. Wir müssen aufpassen, dass die Entwicklung nicht auf eine reaktionäre Seite kippt. In ihrer Enttäuschung suchen Menschen ihren Weg in Esoterik oder im blinden Anschluss an eine Gruppierung, die Halt verspricht. Im Grenzbereich des zweifellos nötigen rationalen Denkens liegt Vieles brach. Die Kirchen sollten da Wege finden, um Orientierung zu geben. Diese guten spirituellen Ansätze wollen wir begleiten.

Marco Meier (50), trat seine Stelle als Redaktionsleiter von "Sternstunden" Anfang 2003 an. Der Quereinsteiger beim Schweizer Fernsehen DRS war vorher unter anderem als Chefredaktor der Kulturzeitschrift "Du" und als Redaktor bei "Magma" und der "Weltwoche" tätig. Er studierte Philosophie und Theologie und ist Mitautor mehrerer Bücher. 1996 erhielt der Vater zweier Kinder den Preis der UBS-Jubiläumsstifung für ausserordentliche publizistische Leistungen.

Autor: Hans Giezendanner

Datum: 24.03.2004
Quelle: Kipa

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