Heraus aus der Überforderung

Ein Hoch auf den christlichen Alltag

Alles um uns herum ist auf Wachstum angelegt, von der Wirtschaft bis hin zum geistlichen Leben. Natürlich ist Wachsen nicht verkehrt, doch es ist kein Selbstzweck. Der Mythos von einem radikalen christlichen Leben in dauernder Fülle steht allerdings unserer eigentlichen Berufung im Weg: unseren Alltag als Christ zu leben.
Auch Rasenmähen (für den Nachbarn) gehört zum Alltag eines Christen.

Normal sein klingt, nun ja, langweilig und einsam. Wer möchte schon anderen Eltern erzählen, dass das eigene Kind durchschnittlich und normal ist, was zu erwarten war, da man selbst es auch ist? Wer möchte schon ein gewöhnlicher Mensch sein, der in einer gewöhnlichen Stadt lebt, in eine gewöhnliche Kirche geht und völlig gewöhnlich arbeitet?

Leben in Fülle?

Ist Jesus nicht gekommen, damit wir als Christen das Leben in Fülle haben (Johannes 10,10)? Unser Leben soll doch zählen. Wir wollen eine Spur hinterlassen, die bleibt, und die Welt verändern. Und doch ist dieser Anspruch nicht erfüllend, sondern er macht uns ruhelos. Lässt uns geistliches ADHS entwickeln und hyperaktiv werden. Und dieser Aktivität folgt meist eine tiefe Passivität: Niemand kann sich Woche für Woche zu einer «radikalen Änderung» seines gesamten Lebens rufen lassen. So pendeln wir als Christen oft zwischen der Sehnsucht nach Sinn und Abenteuer und der nach Normalität und Sicherheit.

Der Fluch des Komparativs (Steigerung)

In seinem lesenswerten Artikel «Vom Zwang zur Optimierung» im Sonntagsblatt vergleicht Bernd Wildermuth diese Haltung mit dem Anspruch im Sport, immer besser zu werden. Sein Ausgangsbeispiel ist ein erfolgreicher Athlet, der alles gewonnen hat, was er gewinnen konnte, aber gefragt wird: «Wie wollen Sie das im nächsten Jahr noch toppen?» Diesen Fluch des Besser-werden-Müssens beschreibt er als das «zentrale Credo» unserer Leistungsgesellschaft: «Es darf kein Ende der Leistungssteigerung geben, keinen Stillstand.» Und Wildermuth zieht völlig zu recht die Parallele zum geistlichen Leben: «In säkularisierter Form tritt uns hier ein urprotestantischer Gedanke entgegen. Es gibt kein Genug, um das Sündenkonto auszugleichen, kein 'Es reicht jetzt!'. Kein Ablasshandel und kein Gute-Werke-Konto kann das Sündensaldo ausgleichen.» Die Sehnsucht nach Wachstum ist normal und gut, doch das, was wir in unserer Kirchen- und Gemeindekultur vielfach daraus gemacht haben, ist oft das Hamsterrad einer «Selbstoptimierung» (Wildermuth), wenn nicht «Werkgerechtigkeit» (Paulus).

Radikale Normalität

Ein Ausstieg aus diesem Hamsterrad ist nötig – und möglich. Dabei geht es nicht darum, die Sehnsucht, etwas Grosses für Gott zu tun, zu schmälern. Wer sich von Gott berufen weiss, ein Jahr lang in Afrika Brunnen zu bohren, der soll genau das tun, um die Welt zu ändern und Gott zu ehren. Doch wer seinem Nachbarn den tropfenden Wasserhahn repariert, seine eigene Familie bekocht und mit den anderen in seiner Gemeinde Freud und Leid teilt, tut dasselbe: die Welt ändern und Gott ehren. Solch ein Alltag ist radikal und normal gleichzeitig. Nur eines ist er nie: langweilig.

Die Kraft der Erlösung

Der Soziologe Max Weber prägte den Gedanken: «Gott hilft dem, der sich selbst hilft.» Viele Prediger fordern uns dazu auf: «Denke gross. Lebe radikal. Kehre um.» Nichts davon ist verkehrt. Es darf nur nicht zum Motor unseres geistlichen Lebens werden. Denn sonst sind wir wieder im Hamsterrad des Schneller-Höher-Weiter-Christseins. Das Radikalste in unserem Leben war und ist die Erlösung durch Jesus Christus. Neues Leben haben wir erhalten. Eine ewige Perspektive. Den Auftrag, Gott und Menschen gleichermassen zu lieben. Und all das geschieht nicht in besonderen Einzelaktionen im Rampenlicht, sondern in unserem Alltag.

Den Sonntag in sich tragen

Bernd Wildermuth illustriert diesen Gedanken des Erlöstseins mit einem Bild aus dem bekannten Märchen «Hans im Glück». Sie erinnern sich? Hans erhält als Lohn einen Klumpen Gold und tauscht ihn auf dem Nachhauseweg immer wieder ein, bis er am Schluss ohne etwas in der Hand heimkommt. Doch der scheinbare Verlierer ist glücklich. An seinem Zustand gibt es nichts mehr zu verbessern und zu verändern. «Die Weisheit des Hans im Glück ist die Weisheit des Sonntags, jenes Tages also, der nur für sich selbst steht und keinerlei ökonomischen Zweck erfüllt. Sechs Tage in der Woche bestehen aus Mühe und Arbeit, Stress und Hektik. Am siebten Tag aber darf sich der Mensch im untätigen Dasein daran erinnern, dass er selbst einen Lebenswert hat, den er sich nicht verdienen muss, ja den er sich gar nicht verdienen kann. Hans muss nichts heimschleppen, er muss nichts leisten, er weiss: Ich darf leben, so wie ich bin. Ich werde geliebt, weil es mich gibt. Hans ist nicht korrumpierbar, er trägt den Sonntag in sich. Das ist sein Glück und sein Erfolg.»

Datum: 16.03.2015
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Sonntagsblatt

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