Auf dem Höhepunkt seiner akademischen Karriere und am
Tiefpunkt seines Lebens zog sich der Psychologe und Priester Henri Nouwen aus
dem Rampenlicht zurück und wurde Teil der Arche-Lebensgemeinschaft. Seine
Bücher und Gedanken berühren Menschen auch noch Jahre nach seinem Tod. Jetzt
erschien ein Buch mit bisher unveröffentlichten Texten von ihm: «Jesus
nachfolgen. Nach Hause finden in einem Zeitalter der Angst».
Henri J. M. Nouwen (1932–96) konnte die Ängste durch die zurzeit noch andauernde Corona-Pandemie nicht
vorhersehen. Auch die aktuellen Sorgen einzelner Menschen hatte er nicht im
Blick. Trotzdem scheint sein Buch genau in unsere Zeit zu passen. Man merkt den
Texten nicht an, dass sie über 35 Jahre alt sind.
Ein altes neues Buch
Als Nouwen Professor in Harvard wurde, fühlte sich der
Priester und Psychologe nicht am Ziel. Im Gegenteil. Er war einsam, und der
akademische Konkurrenzkampf setzte ihm zu. Kurz zuvor war er einige Monate in
Peru gewesen, wo er in missionarischen Projekten unter den Armen mitarbeitete.
Dort traf er sich auch mit Gustavo Gutiérrez und setzte sich mit den Ideen der Befreiungstheologie auseinander. Zurück in
den USA quälte ihn eine innere Unruhe. Mitten in dieser persönlich ungeklärten Situation
hielt er sechs Vorträge über Nachfolge, darüber «wie man in angstvollen Zeiten
leben sollte».
Die Autorin Gabrielle Earnshaw hörte sich 2019 die
Aufzeichnungen an und stellte aus den alten Reden ein neues Buch zusammen. Sie ist
begeistert davon und unterstreicht: Seine Vorträge «vibrieren aus dem Grund
voller Energie, weil dieses Thema für Henri Nouwen nicht theoretischer Natur
war, sondern seine eigene Realität. Die Frage, wie man Jesus nachfolgen könne,
war seine Frage. Etwas weniger als vier Monate danach kündigte er…» Der
weltweit gefragte Redner und anerkannte Professor wurde Seelsorger in der Arche-Gemeinschaft in Toronto, wo Menschen mit und ohne geistige
Einschränkungen gemeinsam leben.
Da redet jemand, der reden kann
Es gibt Autoren, die fachlich sehr versiert sind.
Leider müsste man fast so lange studiert haben wie sie, um sie zu verstehen.
Nouwen ist anders. Man spürt ihm den Psychologen und Seelsorger ab, aber so
tief seine Gedanken auch sind: Seine Sprache bleibt einfach. Seine Botschaft
ist ermutigend. Hier redet jemand, dem ich gern zuhöre, weil er sich gut
ausdrücken kann und auf den Punkt kommt. Gleichzeitig fühle ich mich dabei wie
auf einem Spaziergang mit einem guten Freund, der sich mit mir unterhält. Der
Theologe Ron Rolheiser schätzt Nouwen mit vielen anderen dafür, dass er der Kirche die Spiritualität zurückgebracht
und sie gleichzeitig in der säkularen Welt zum Thema gemacht hat.
Nachfolge, angstfrei und ohne Krampf
Buch «Jesus nachfolgen» von Henri Nouwen
Viele christliche Bücher sind entweder
Herausforderungen zur Nachfolge oder sie sind seelsorgerlich geschrieben. Beides
zusammen ist eine Seltenheit – und gleichzeitig typisch für Nouwen. «Oft sind
wir mehr Wanderer als Nachfolger», hält er zu Beginn des Buches fest. «Ich sage
das von mir selbst, aber es gilt auch für Sie. […] Wir gehen hierhin und
dorthin, tun dieses und jenes, reden mit diesem, reden mit jenem, haben dieses
zu tun und jenes zu erledigen.» Und mitten in das Hamsterrad unserer
alltäglichen Herausforderungen hinein gibt der Autor die Einladung von Jesus an
seine ersten Jünger zur Nachfolge weiter. Und diese beinhaltet weder, alles zu
verlassen noch das Kreuz auf sich zu nehmen. Beides spielt später noch eine
wichtige Rolle – sowohl bei Jesus als auch in Nouwens Buch. Aber zunächst
einmal schaut der Autor Jesus und seinen Jüngern über die Schulter, als diese
ihn fragen: «Rabbi (das heisst übersetzt: 'Lehrer'), wo wohnst du?» und jener
antwortet: «Kommt und seht!» (Johannes Kapitel 1, Verse 38-39).
Ein ganzes Kapitel widmet Nouwen dieser Einladung, um
– vielleicht entgegen manch negativer Erfahrung – zu unterstreichen, dass sie
tatsächlich einladend ist. Dazu denkt er sich in die Zeit von Jesus zurück und
malt dessen Ruf in die Nachfolge plastisch aus. Gleichzeitig zeigt er, dass
Nachfolge auch für uns heute damit beginnt, uns bei Jesus umzusehen und ein
Zuhause zu finden.
Ein hilfreiches Vermächtnis
Nachdem Nouwen seine Vorträge über Nachfolge gehalten
hatte, lebte er noch mehr als zehn Jahre in der Arche-Gemeinschaft und
verfasste zahlreiche Bücher und Artikel. «Jesus nachfolgen» sticht trotzdem
heraus. Zum einen entstand es in einem Schlüsselmoment seines Lebens, zum
anderen bildet es auch thematisch so etwas wie ein Vermächtnis des Autors.
Nouwen garniert das Buch nicht mit persönlichen
Beispielen. Trotzdem ist es durch und durch von seinem Erleben geprägt. Auch
ohne um seine Geschichte zu wissen, nimmt er mich darin bei der Hand und
ermutigt mich auf seine sanfte und verbindliche Art, Jesus zu vertrauen und ihm
nachzufolgen – nach Hause zu finden in einem Zeitalter der Angst.
Zum Buch:
Henri J. M. Nouwen, Jesus nachfolgen. Nach Hause
finden in einem Zeitalter der Angst, Neufeld Verlag, 160 Seiten, gebunden, ISBN
978-3-86256-162-9. SFr 19,70 / EUR 16,90 Buch kaufen