Keine Gebrauchsanweisung

Matt Mullins: Die Bibel ist schön wie ein Gedicht

Wenn Matthew Mullins darüber nachdenkt, dass wir die Bibel eher als Gedicht denn als Gebrauchsanweisung lesen sollten, dann startet er nicht den Wettbewerb der am wenigsten gelesenen Texte. Es geht ihm vielmehr darum, nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen zu lesen. Uns (wieder) an der Bibel zu erfreuen und von ihr trösten zu lassen. Sie zum Klingen zu bringen.
Matthew Mullins (Bild: ©Rebekka Hankins / bakerpublishinggroup.com)
Das Buch «Enjoying the Bibel»

«Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet», schreibt Paulus im 2. Timotheusbrief Kapitel 3, Verse 16–17. Natürlich hat der Apostel damit recht, findet Matthew Mullins. Doch der Englischprofessor fürchtet, dass Belehren, Überführen und Zurechtweisen allein zu kurz greifen. Wer die Bibel auf ihren Informationsgehalt reduziert, erhält eine Gebrauchsanweisung zum Leben – gewinnt aber kaum Freude beim Lesen. Genau darum ging es ihm beim Schreiben seines Buchs «Enjoying the Bible» (Die Bibel geniessen), das Christianity Today vorstellte.

Zu viel Hochachtung vor der Bibel

Wenn Mullins sich wünscht, dass Christen die Bibel wie ein Gedicht lesen, dann meint er nicht, dass noch weniger Menschen darin blättern sollten als bisher. Denn gerade mal um die sechs Prozent lesen ab und zu Gedichte – nur das Hören von Opern ist noch weniger verbreitet… Er sieht sich selbst als Gern-Leser, der trotzdem lieber die nächste Netflixserie schaut, statt die Bibel aufzuschlagen. Um das zu tun, davon ist er überzeugt, muss man erst einmal glauben, dass es Spass macht.

«So wie ich sind die meisten meiner Studierenden in Kirchen aufgewachsen, in denen die Bibel ein sehr hohes Ansehen hat», erklärt Mullins. Das wäre für ihn in Ordnung, wenn die Bibel nicht zum Ratgeber verkäme, den man nur mit bestimmten Fragestellungen im Kopf aufschlägt: Welche Ausbildung soll ich machen? Soll ich lieber diese oder jene Person heiraten? Dabei ist die Bibel keine Anleitung aus einem Guss, sie ist vielmehr «eine wahnsinnig vielfältige Sammlung von Genres und literarischen Formen».

Die Bibel und die Poesie

Typisch für das Lesen von Gedichten ist es, dass sie einen berühren, ohne dass man gleich sagen kann, warum. Dass sie sich oft nicht in einem Satz zusammenfassen lassen. Das man sie wieder und wieder liest und jedes Mal etwas Neues entdeckt. Das kann frustrierend sein. Aber gleichzeitig öffnet es die Türen für eine neue Art der Wahrnehmung. Und was für menschliche Gedanken gilt, gilt in besonderem Masse für Gottes Worte.

Mullins beschreibt, wie er früher in seiner konservativen Tradition an Bibeltexte heranging: Was steht da? Was bedeutet es? Wie kann ich das umsetzen? Nichts daran ist verkehrt, doch so liest man kein Gedicht – und auch bei weiten Teilen der Bibel greift es zu kurz. Inzwischen nutzt er auch Methoden wie die «Lectio Divina» und merkt: «Wenn wir die Schrift so lesen wie Gedichte, werden wir in der Lage sein, ihre Schönheit zu betrachten und ihre Anziehungskraft auf unsere Gefühle zu spüren, anstatt sie nur als Belehrungen zu nutzen.»

Eine andere Form von Wahrheit

Grosse Teile der Bibel sind poetisch geschrieben, angefangen beim «Lied der Schöpfung» in 1. Mose, Kapitel 1 und 2. Manche Christen sprechen hier lieber von einem Bericht, weil sie Angst haben, dass ein Gedicht nicht «wahr» genug sein könnte. Doch Lyrik ist nicht erfunden, sie ist verdichteter Text. Sie ist die kunstvolle Darstellung von Wahrheit auf einer anderen Ebene. Damit ist die Schöpfungserzählung noch längst kein Märchen – genauso wenig jedoch eine wissenschaftliche Abhandlung.

Wer hier die Wahrheitsfrage diskutiert, hat die lyrische Ebene der Bibel nicht verstanden. Er oder sie wird wahrscheinlich auch vor Leonardos Mona Lisa stehen und behaupten: «Das ist kein biometrisches Foto, also ist das Bild nicht wahr…» Stattdessen können wir die Schönheit – und Wahrheit – des Bildes feiern und uns daran freuen.

In seinem Buch stellt Mullins heraus: «Der Hauptpunkt dieses Buches ist, dass ein grosser Teil der Bibel dazu geschrieben wurde, um genossen zu werden. Wenn das Lesen der Bibel also kein Vergnügen bei Ihnen auslöst, dann verstehen Sie vielleicht nicht, was Sie gelesen haben. Mit 'verstehen' meine ich hier nicht einfaches Zur-Kenntnis-Nehmen, sondern dass Sie nach der Lektüre von Psalm 23 getröstet sind.»

Zum Thema:
In Reimform: Thomas Brezina – vom Tiger-Team zur Kinderbibel
Bibel lesen? Na klar!: Wie Bibellesen Freude macht
Autor Oliver Merz: Papperlapapp und andere lyrische Erstlinge

Datum: 31.05.2021
Autor: Hauke Burgarth / Jessica Hooten Williams
Quelle: Livenet / Christianity Today

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service