Weihnachten – und kein Licht weit und breit

Weihnachtsbaum
Suizid
Jörg Weisshaupt

Ausgerechnet vor und nach Festen wie Weihnachten scheinen sich mehr Menschen das Leben zu nehmen. Woran liegt das? Wie können Suizide verhindert werden? Und wer hilft den Hinterbliebenen, wenn doch etwas geschieht? Wir sprachen mit Jörg Weisshaupt, dem Zürcher Fachmann für Jugendseelsorge, der auch zwei Selbsthilfegruppen für Angehörige von Suizidopfern leitet.

Jesus.ch: Jörg Weisshaupt, man sagt, dass Suizide um Weihnachten besonders häufig geschehen. Stimmt das?
Jörg Weisshaupt: Wenn Suizide sich häufen, hat dies weniger mit dem trüben Wetter und den kurzen Tagen zu tun als mit Erinnerungen. Das können Erinnerungen an schöne Momente innerhalb der Familie sein, aber auch Erwartungen an das Fest, die sich nicht erfüllt haben, oder eine Enttäuschung über Auseinandersetzungen in der Familie. Depressiv veranlagte Menschen leiden eher im Frühling, weil die wieder erwachende Natur und die helleren, längeren Tage im Widerspruch zu ihrem Empfinden stehen.

Welche Rolle spielen denn die Feste des Kirchenjahres?
Suizide an Weihnachten und anderen kirchlichen Feiertagen und danach sind vor allem für die Angehörigen besonders belastend. Die Erinnerung an die geliebte Person und das Verlusterlebnis wiederholen sich dann jedes Jahr am jeweiligen Feiertag. Gerade an Weihnachten, dem Fest der Freude, wird die jahrelange Trauerarbeit als krasser Gegensatz zur allgemeinen „Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung“ empfunden.

Welche Signale senden Gefährdete allenfalls aus?
Sehr unterschiedliche. Einzelne Menschen senden deutliche Signale aus, andere kaum wahrnehmbare. Angehörige hinterfragen sich dann, weshalb das Suizidopfer sich ihnen nicht anvertraut habe. Sie suchen Schuld bei sich selbst.

Einzelne Suizidgefährdete räumen ihr Zimmer schön auf, verschenken zum Beispiel ihre CD-Sammlung oder äussern sich schriftlich, dass sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen. Das betrifft namentlich Jugendliche in Mittelschulen oder im Studium.

Was können Angehörige von Gefährdeten tun?
Wichtig ist, dass man die Signale ernst nimmt und sie nicht verharmlost im Sinne von „Jeder hat einmal eine Krise“. Man muss darauf eingehen. Wenn jemand im Gespräch den Wunsch äussert, nicht mehr leben zu wollen, dann soll nachgefragt werden. Zum Beispiel: „Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie du es tun möchtest?“

Man braucht dabei keine Angst zu haben, jemanden dadurch erst auf die Idee zu bringen. Im Gegenteil: Das Ansprechen des Suizids dient dazu abzuklären, wie akut der Wunsch danach ist.

Sodann kann fachliche Hilfe gesucht werden. Im Extremfall kommt ein fürsorgerischer Freiheitsentzug und die Einweisung in eine psychiatrische Klinik in Frage. Dabei kann zwar das Vertrauensverhältnis zwischen Suizidgefährdetem und Angehörigen getrübt werden, aber wenn es ums Ganze geht, muss dieses Risiko eingegangen werden.

Zu beachten ist, dass es etlichen Suizidwilligen in den letzten Tagen vor dem Suizid „gut“ geht, weil sie sich auf den Suizid festgelegt haben und damit eine Lösung für alle Probleme gefunden zu haben meinen. Sie merken dann nicht mehr, dass es keine echte Lösung ist.

Wenn wirklich etwas geschieht, was ist dann zu tun?
Viele Angehörige melden sich leider erst nach Jahren in einer Selbsthilfegruppe. Sie haben auch gegenüber der Öffentlichkeit verschwiegen, dass sich der Verstorbene das Leben genommen hat. Unter dieser Last leiden sie dann massiv. Es ist wichtig, dass sie von Anfang an kommunizieren, dass ein Suizid geschehen ist.

Die Hinterbliebenen müssen ehrlich damit umgehen und darüber sprechen. Man muss über den Vorfall reden können, besonders auch mit Menschen, die dasselbe erlebt haben. Andere gehen ihnen oft aus dem Weg. Wichtig ist auch, dass psychologische Hilfe, Seelsorge und Beratung in Anspruch genommen wird, und zwar bei Menschen, welche Betroffene fachlich gut begleiten können.

Angehörige von Suizidopfern haben laut Ihren Angaben ein 50 Mal höheres Suizidrisiko. Woran liegt das? Und wie kann dieses Risiko gemindert werden?
Das Risiko ist deshalb höher, weil sich die Angehörigen überfordert fühlen, zum Beispiel finanziell oder bei Erziehungsfragen und andern Problemen im Alltag. Andere haben eine grosse Sehnsucht nach ihrem Partner oder Nächsten, so dass sie ihm folgen wollen. Es kann auch eine Trotzreaktion gegenüber demjenigen sein, der sich aus dem gemeinsamen Leben verabschiedet hat: „Das kann ich auch!“

Oft sind bei durch Suizid zerstörten Partnerschaften die Kinder der einzige Grund, es nicht auch zu tun. Kinder von Suizidopfern sagten mir auch schon, dass sie von einer Selbsttötung absehen, weil sie erlebten, wie alle darunter gelitten hätten.

Wie könnte eine Präventionskampagne gegen Suizid in der Weihnachtszeit aussehen?
Suizid gilt nicht als Krankheit, daher gibt es für eine Prävention auch kein Geld. Das Thema muss ­unabhängig von der Jahreszeit ­ wo immer möglich eingebracht werden, vor allem in der Ausbildung. Ich mache zum Beispiel in der Lehreraus- und -weiterbildung Workshops dazu. Viele Menschen wählen die Thematik auch freiwillig.

Ich sehe aber auch, dass zum Beispiel Theologen, die professionell mit Suizidgefährdeten und ihren Angehörigen arbeiten sollten, dafür keine Ausbildung erhalten haben. Wir bieten deshalb speziell für diese Berufsgruppe ein dreitägiges Kursprogramm an.

Auch Polizei und Sanität benötigen zusätzliche Ausbildung und Informationen. Hausärzte müssen lernen, Andeutungen wahrzunehmen und mit den Gefährdeten ins Gespräch zu kommen. Besonders wichtig wäre ein interdisziplinärer Austausch zwischen verschiedenen Berufsgruppen.

Inzwischen gibt es auch ein Netz von Selbsthilfegruppen …
Noch gibt es nur wenige Selbsthilfegruppen, und sie werden nicht öffentlich unterstützt. Das Projekt „nebelmeer.net“, das ich begonnen habe, gibt es erst in Zürich. Wir versuchen jetzt, in Basel eine weitere Gruppe aufzubauen. Ich habe dazu die Unterstützung des Reformierten Stadtverbandes.

„Ipsilon“, ein Dachverband, der unter anderen von Ebo Aebischer ins Leben gerufen wurde, ist ein Verein, der lokale Initiativen zusammenfasst und den Zugang zu ihnen ermöglicht. Diese sind aber dünn gesät.

„Regenbogen“ konzentriert sich auf Eltern, die um ein Kind trauern, dessen Tod verschiedene Ursachen haben kann. Und der Verein Refugium arbeitet mit Erwachsenen, die ihren Partner durch Suizid verloren haben. Noch gibt es aber auf diesem Gebiet viel aufzuholen.

Website:
www.nebelmeer.net
www.ipsilon.ch

Lebenshilfe, Beratung: www.lebenshilfe.jesus.ch
Dossier:
www.weihnachten.jesus.ch
www.weihnachten.livenet.ch

Datum: 12.12.2005
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Jesus.ch

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