Individualismus und Gesellschaft

Gesellschaft
Professor Robert D. Putnam

Ist es das unabänderliche Schicksal der modernen Gesellschaft, einem immer mehr zunehmenden Individualismus zu erliegen? Robert D. Putnam, Professor für öffentliches Recht an der Harvard Universität, England, hat ein Buch dazu veröffentlicht: "Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community" (Kegeln allein: Der Zusammenbruch und die Erneuerung der Amerikanischen Gemeinschaft"). In diesem Buch stellt er die These auf, dass die Menschen in Amerika keine Verbindung mehr zu ihren Freunden, Nachbarn und Gesellschaftsstrukturen haben, was zu einem dramatischen Rückgang des Sozialkapitals (der Gesamtmenge gesellschaftlichen Zusammenwirkens) geführt habe.

Putnams These wurde berühmt, nachdem er 1995 einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht hatte, der seine Ideen über den Zusammenbruch der Gemeinschaftsbande darlegte. Das Buch bietet einen sehr viel detaillierteren Blick auf das Thema und eine Antwort auf seine Kritiker. Sein Titel beschwört das Bild des Niedergangs der traditionellen gesellschaftlichen Gruppen, wie zum Beispiel Bowlingklubs, herauf, die einmal das Rückgrat des Gemeinschaftslebens waren.

Bindungen drastisch schwächer geworden

Er unterscheidet verschiedene Arten von Sozialkapital. Da ist zum Beispiel das Bridgespiel, das Wechselbeziehungen zwischen Gruppen und Bindungen fördert, was freundschaftliche Bande zwischen einer jeweils begrenzten Anzahl von Menschen verstärkt. Putnam behauptet, dass in Amerika in den letzten Jahrzehnten die Bindungen unter den Bürgern drastisch schwächer geworden sind.

Das ist nicht bloss Nostalgie nach der guten alten Zeit, so sagt er in seinem Einleitungskapitel, sondern es gründet sich auf eine detaillierte soziologische Analyse, durch 80 Seiten mit Anhängen und Anmerkungen gestützt.

Putnam ist nicht der Erste, der dieses Thema aufgenommen hat. Vor ein paar Jahren machte der Kommunitarianismus für eine kurze Zeit von sich reden. Sein berühmtester Befürworter, Amitai Etzioni, ("The Spirit of Community", "Der Geist der Gemeinschaft", 1993) wurde Favorit im Weissen Haus während Bill Clintons erster Amtsperiode. Und vor ihm war es Robert Bellah, dessen "Habits of the Heart" (Herzensgewohnheiten) (1985) untersuchte, wie der Individualismus die Fähigkeit zum Engagement für die Gemeinschaft in Mitleidenschaft zog.

Zunahme der Isolation sogar in den Familien

Ein Artikel in "The Sunday Times" beschäftigte sich mit Putnam. Er wurde in Port Clinton, Ohio, geboren, einem Ort mit 5.000 Einwohnern. Als Junge war er Mitglied eines Kegelvereins, und seine Eltern waren aktiv in lokalen Gruppen und im gesellschaftlichen Leben. Er ist der Auffassung, dass in den 50er Jahren das Sozialkapital in den Vereinigten Staaten auf seinem Höhepunkt war.

Das in Vereinen organisierte Kegeln sei im letzten Viertel eines Jahrhunderts um Zweidrittel jäh zurückgegangen, schrieb Putnam in einem Artikel für den "Observer" ebenfalls vom 25. März. Und, was noch wichtiger sei, die Amerikaner heute seien weit weniger bereit, an Gemeindeversammlungen teilzunehmen, sich lokalen Organisationen anzuschliessen, in die Kirche oder zur Wahl zu gehen, Geld für Wohlfahrtszwecke zu spenden oder eine andere Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen als es noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war.

Sogar innerhalb der Familien, schrieb Putnam, wachse die soziale Isolation. Heute "essen ungefähr ein Drittel weniger Familien gemeinsam, das Gleiche gilt für den gemeinsamen Urlaub, ja sogar für das Fernsehen", schrieb er. "Da überrascht es nicht, dass wie unsere Beziehungen auch unser Vertrauen zueinander zurückgegangen ist. Wir sind dabei, ein wesentliches 'Gleitmittel' für das gesellschafliche Zusammenwirken zu verlieren."

Europa ist dabei, dem Trend zu folgen

Der Harvardprofessor glaubt, dass, so wie es aussieht, Europa dabei sein könnte, dem amerikanischen Muster zu folgen. Fast alle Industriestaaten, politischen Parteien, Vereinigungen und Kirchen erleben im letzten bzw. in den letzen zwei Jahrzehnten einen Rückgang des Engagements, ungefähr 20 Jahre nachdem der vergleichbare plötzliche Rückgang bei den Amerikanern begann," merkte Putnam dazu an.

Seiner Meinung nach war es das letzte Mal, dass so viele Länder eine Krisis des Sozialkapitals von solchem Ausmass erlebten, in der Periode, die auf das Einsetzen der industriellen Revolution folgte, als Menschen in grossen Mengen aus den Dörfern in Fabrikstädte abwanderten, ihre Freunde und Gemeinschaften hinter sich lassend.

Dieses Defizit wurde von einer Generation der Gesellschaftsreform durch die Schaffung freiwilliger Einrichtungen, Vereinigungen und anderer gesellschaftlicher Gruppen überwunden, die vom Ende des 19. Jahrhunderts an Sozialkapital aufbauten.

In seinem Buch zeigt Putnam einige Möglichkeiten auf, wie man die gesellschaftlichen Bindungen wiederherstellen kann. Er betont die Notwendigkeit, die Jugend dazu zu erziehen, sich reger an gesellschaftlichen Aktivitäten, von Mannschaftssport bis hin zu kommunalpolitischem Engagement, zu beteiligen. Was den Arbeitsplatz angeht, fordert Putnam dringend, dass den Arbeitnehmern mehr Flexibilität eingeräumt wird, um sich der Familie und den Bürgerpflichten widmen zu können.

Er fordert auch ein spirituelles Erwachen, wobei er darauf hinweist, dass die Religion in der Vergangenheit eine Schlüsselrolle bei der Schaffung von Sozialkapital gespielt hat. Dabei gibt er den Religionen den Vorzug, die "sozial engagiert" sind.

In seinem Artikel im "Observer" begrüsste Putnam Präsident George W. Bushs Initiative, auf dem Glauben gründende Programme gesellschaftlicher Aktionen zu unterstützen. "Organisationen, die den Glauben als Grundlage haben, besitzen, wie sich erwiesen hat, die Fähigkeit, die Struktur zerrütteter Staaten wieder aufzubauen, und sie verdienen es, von Regierung und Stiftungen unterstützt zu werden", schreibt er.

Mittel gegen Individualismus?

Am Ende seiner Besprechung von "Bowling Alone" schrieb das Journal "The Public Interest", Putnam habe solide und überzeugende Daten vorgelegt, um seine These eines jähen Zusammenbruches des Bürgerengagements zu stützen. In diesem Sinne ist das Buch "ein Markstein, mit dem jeder, der in Zukunft über das Thema Gemeinschaft schreibt, sich wird auseinander setzen müssen."

In der Tat liegen die Stärken von Putnams Buch eher bei der Beschreibung des Phänomens als dabei, für Abhilfe zu sorgen. Dies könnte an der Begrenztheit eines soziologischen Standpunktes liegen, der die äusseren Konsequenzen des Verhaltens berücksichtigt und dem es an den Instrumenten fehlt, mit denen die zu Grunde liegenden Motivationen menschlichen Handelns analysiert werden können. Putnam spielt darauf sogar in seinem Schlusswort von "Bowling Alone" an, wenn er ermahnt, das Gemeinschaftsleben wieder aufzubauen, nicht weil es gut für Amerika ist, "sondern weil es gut für uns ist."

Die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander ist nicht nur eine gesellschaftliche Angelegenheit, sondern sie muss zu einer moralischen Kategorie erhoben werden. In diesem Sinn kann die Solidarität als eine Tugend betrachtet werden. Sie ist eine feste und beharrliche Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen; das heisst für das Wohl aller und das eines jeden Individuums, da wir alle wirklich für alle verantwortlich sind."

Deswegen ist das Gemeinwohl darauf gegründet, dass wir die anderen als Personen anerkennen, nicht einfach als Objekte, die man benutzt. Der nächste Schritt beinhaltet eine Personalisation des Gemeinwohls, sodass ein Individuum seine Erfüllung nicht einfach darin sucht, von anderen zu nehmen, sondern dass es das Gemeinwohl als Teil seiner persönlichen Zielsetzung einbezieht.

Diese Haltung zu erreichen, ist nicht etwas, was durch öffentliche Massnahmen zu Stande gebracht werden kann. Solidarität ist eine Tugend, die auf die christlichen Begriffe von "totaler Unverdientheit, Vergebung und Versöhnung" bezogen ist. Man muss den Nächsten echt in christlicher Weise lieben. Die Lösung des Problems Individualismus erfordert daher persönliche Umkehr und Üben der Tugenden. Es ist eine komplizierte und anspruchsvolle Aufgabe, aber es ist der einzige Weg, gesellschaftliche Probleme von ihren Wurzeln her zu lösen.

Datum: 05.05.2003
Quelle: Zenit

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