"Das Eis bricht immer wieder ein"

Warum?

Erfurt. Am 26. April 2002 erschoss Robert Steinhäuser an einem Erfurter Gymnasium 16 Menschen und dann sich selbst. Eine beispiellose Tat. Ein Jahr nach dem Massaker leiden die Menschen noch immer an ihren Erinnerungen. Die Kirche gibt in diesen Tagen vielen erneut Halt, doch bei der Frage nach dem Warum sucht auch sie nach Antwort und Sinn.

Heute Samstag ist es in Erfurt wieder fünf vor elf. Der Domplatz wird sich mit Menschen füllen. Man wird Reden halten, und die Kirchen werden geöffnet sein. Medizinische Hilfsdienste und Psychologen stehen in Bereitschaft. Für alle Fälle. Ein Jahr scheint lang zu sein, und doch scheint es vielen wie gestern.

Um fünf vor elf begann am 26. April 2002 der Schüler Robert Steinhäuser mit dem Massaker in dem Gymnasium, das ihn kurz zuvor aufgrund mangelnder Leistungen verwiesen hatte. Mit 71 Schüssen läutete Robert S. in Erfurt damit eine neue Zeitrechnung ein. Noch immer ist die Stadt traumatisiert, noch nicht sie selbst. In dem vorher etwas verschlafen wirkenden thüringischen Ort nennt man diesen dunklen Tag seitdem "Sechsundzwanzigster Vierter". So wie die Amerikaner vom 11. September 2001 von "nine eleven" reden.

Wieder lernen, zu leben

Äusserlich haben Handwerker im Gutenberg-Gymnasium die Spuren des 26. April beseitigt. Der Jugendstilbau hat einen neuen Anstrich und neue Fenster erhalten. Das Dach ist auch fertig, und die Wetterfahnen sind neu. Die Einschusslöcher sind verputzt. Über dem Nebeneingang steht noch immer der sinngebende Spruch aus dem Gründungsjahr 1908: "Leben, um zu lernen".

Doch die Gutenberger Schüler müssen erst wieder lernen zu leben. Es wird ihnen nicht leicht gemacht, gerade reissen die Gedenkfeierlichkeiten wieder alte Wunden auf. Da ist die Schülerin, die sich überlegt: Wenn jetzt einer durch die Tür kommt und anfängt zu schiessen, wo werfe ich mich hin? Da ist die ins Schloss fallende Tür, die für manche noch immer wie ein Schuss klingt.

"Das Eis bricht immer wieder ein", sagt Christoph Brinkmann. Die Anlässe seien für Aussenstehende wahrscheinlich banal. Da werde einfach jemand mal laut, oder ein anderer breche in Tränen aus, und niemand wüsste hinterher, warum das jetzt so war. Brinkmann ist evangelischer Pfarrer und Religions-Lehrer an der Gutenberg-Schule.

Als Seelsorger wird er seit Monaten in einer Weise gebraucht, wie er es noch nicht erlebt hat. Schüler erzählen ihm Sachen, die weit über das hinausgehen, die Brinkmann sagen kann. Immer wieder hört er von Selbstmordversuchen, die geschehen waren. Der Erfurter ist auch Seelsorger für seine Lehrerkollegen, er ist für sie da, egal, ob sie in der Kirche sind, oder nicht. Auch in diesen Tagen sieht Brinkmann die Auswirkungen des Amoklaufs auf die Schüler. Vor ein paar Tagen war er dabei, als in einem Kino Kurzfilme Premiere hatten, die Gutenberg-Schüler gedreht haben. In der letzten Zeile des Abspanns eines der Filme stand "Life sucks". Das Leben nervt.

Schutzraum Kirche

Nahe dran am Lebensgefühl junger Leute ist auch Jeremias Treu, er ist evangelischer Jugendseelsorger von Erfurt. Spontan rief er damals mit seinen Pfarrer-Kollegen zu einer Andacht auf. Tausend Menschen sassen in der Andreas-Kirche, der Abend ist ihm vor Augen, als sei es gestern gewesen. "Die Menschen wussten, wohin sie gehen sollten. Und sie sind eben nicht in die Turnhallen, sondern in die Kirchen gekommen", sagt Treu.

Auch ein Jahr danach erinnern in der Andreaskirche bewegende Kinderzeichnungen an das Ereignis. Doch Treu hat in den Tagen seit dem Amoklauf auch immer wieder schöne Momente erlebt. Dieses Fehlen von Gewalt, die Zärtlichkeiten, die vielen freundlichen Worte, das Verständnis füreinander.

Der Jugendseelsorger fühlt sich gebraucht, er sieht die Kirche gebraucht. "Es gibt in unserer Gesellschaft nur ganz wenige Schutzräume, in die Menschen in Krisensituationen gehen können", ist Treu überzeugt. Wenn sich die Kirche das klar mache, jedoch keine Ansprüche und falsche Erwartungen einfordere, erfülle sie seiner Ansicht nach ihre ureigene Aufgabe als haltender Anker, als Orientierungsgeber in der Gesellschaft.

Bohrende Fragen, wenig Antworten

Doch der Amoklauf hat auch viele Enttäuschte zurückgelassen. Hinterbliebene von Opfern fühlen sich im Stich gelassen. Zwischen Worten und Taten, zwischen Hilfsversprechen und Bürokratie gebe es eine grosse Kluft, klagt eine Frau.

Noch immer quälen vor allem all die bohrenden Fragen. Welchen Anteil trägt das gesellschaftliche Umfeld an dem verzweifelten Hass, der sich in Erfurt Bahn brach? Hätten die Lehrer erkennen müssen, wie es um Robert S. steht? Braucht es ein anderes Klima an den Schulen – in der Gesellschaft überhaupt? Mehr Zeit für Gespräche, mehr Zeit zum Zuhören? Warum die Toten?

Auf alle diese Fragen hören viele auch von den Kirchen keine tröstenden Antworten. Der katholische Erfurter Bischof Joachim Wanke selbst zeigte sich hilflos und schrieb: "Es gibt keine vorschnellen Antworten auf solche Ereignisse. Vielleicht gibt es im Tiefsten überhaupt keine Antworten. Vor dem Tod, zumal einem solchen Tod, verstummen alle Worte, versagen alle Erklärungen."

Doch eines scheint für engagierte Christen klar: Die Defizite in Schule und Gesellschaft lagen lange vor dieser entsetzlichen Tat offen zu Tage. Über sie gilt es zu sprechen. Auch dann noch, wenn die inneren Wunden einigermassen verheilt sind.

Immer wieder ist an Gedenkveranstaltungen in diesen Tagen in Schulen und Kirchgemeinden die Rede davon, dass Heranwachsende, Menschen überhaupt, in einer immer unübersichtlicher und fordernden Welt Grundorientierung und Wertmassstäbe bedürfen. Etwas, das einen Menschen ausfüllt. Hierin sehen sich die Kirchen in drängender Weise in der Pflicht.

Etwas, das einfach nicht weggeht

Jeder wird das Gedenken an den Amoklauf an diesem Tag auf seine Weise begehen. Manche werden bei der offiziellen Veranstaltung auf dem Domplatz dabei sein, wo das Holzkreuz an den Stufen und das weisse Spruchband mit den Namen der Opfer zu sehen ist. Andere werden sich irgendwo mit Freunden treffen, nicht wenige werden sich zu Hause verkriechen.

Ein Jahr ist um, aber zwölf Monate sind viel zu kurz. Christoph Brinkmann weiss aus seiner seelsorgerlichen Arbeit, dass Trauer viele Jahre dauern kann. Er sieht, dass noch gar nichts gut ist. Der 26. April von Erfurt ist wie eine schwärende Wunde, etwas, das einfach nicht weggehen will.

Datum: 26.04.2003
Autor: Vera Rüttimann
Quelle: Kipa

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