Warum fehlen Indien vierzig Millionen Frauen?

Indische Hochzeit: Mädchen werden auch deswegen beseitigt, um der Zahlung einer ruinösen Mitgift zu entgehen.
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New York. Die Besorgnis über Abtreibungen, bei denen nach Geschlecht selektiert wird, wächst in Indien und anderen asiatischen Ländern wieder. Es ist zwar schwer, an genaue Daten zu kommen. Aber eine Analyse der “Financial Times”, sprach von einem nationalen Defizit von ungefähr vierzig Millionen Frauen in Indien. Die Anwendung von Ultraschalluntersuchungen zur Ermittlung des Geschlechts ungeborener Kinder ist inzwischen Routine, hiess es in dem Artikel, und in einigen Dörfern kommen auf sechs oder sogar sieben Geburten von Jungen nur drei Mädchen.

Bevorzugung von Jungen

Jüngste Versammlungen von religiösen Führern aller Glaubensrichtungen haben die Praxis weiblicher Fötizide verurteilt, aber ihre Erklärungen wurden in der lokalen Presse kaum erwähnt, schrieb die “Financial Times”. Es ist die Hinduistische Kultur, Hand in Hand mit den feudalen Strukturen und dem traditionellen Kastenwesen, die für einen grossen Teil der Bevorzugung der Jungen verantwortlich gemacht wird. Viele Beobachter meinen auch, dass die Mädchen deswegen beseitigt würden, um der Zahlung einer Mitgift zu entgehen, obwohl die Daten diese Ansicht eigentlich nur in einigen Fällen stützen.

Die “Financial Times” führte einen indischen Regierungsbericht von der Mitte der 1990er Jahre an, der darauf hindeutet, dass die selektive Eliminierung von Mädchen nicht auf Bildungs- oder Wirtschaftsfaktoren zurück zu führen ist. In der Tat ist die Zahl der Mädchen in zwei Staaten, Punjab und Haryana, zurückgegangen, gerade als die Einkommen stiegen. Und es gibt auch grosse Unterschiede im Geschlechterverhältnis der Kinder in den ärmeren nördlichen Regionen Indiens.

Laut einer Studie, die in der Dezemberausgabe der “Population and Development Review” veröffentlicht wurde, zeigen vorläufige Schätzungen der indischen Volkszählung im Jahr 2001 ein Geschlechterverhältnis für Kinder unter sieben Jahren von 107,8 Jungen zu 100 Mädchen. Der männliche Überschuss stellt eine signifikante Zunahme gegenüber dem Ergebnis der Volkszählung im Jahr 1991 dar, bei der es 105,8 Jungen pro 100 Mädchen waren. Es gibt grosse regionale Unterschiede, wobei in zehn von den 26 indischen Staaten das Verhältnis 110 Jungen pro 100 Mädchen überschritten wird.

Wenig Widerstand gegen die Tötung weiblicher Föten

Die Anwendung der Ultraschalluntersuchung, um das Geschlecht von Föten zu ermitteln, verbreitet sich immer mehr, trotz eines Verbots der Regierung. In dem Artikel der “Population and Development Review” heisst es, dass es bis vor kurzem wenig Widerstand im eigenen Land gegen die Tötung weiblicher Föten gegeben hat, selbst unter Frauengruppen. Die Feministinnen sind bei diesem Thema gespalten. Sie stecken in der Zwickmühle zwischen ihrer Unterstützung für ein “Recht” der Frauen auf Abtreibung und ihrem Widerstand gegen die Beseitigung weiblichen Nachwuchses.

Vietnamesische Frauen entführt

Das Missverhältnis der Geschlechter schafft ernste Probleme für junge Männer, die nach einer Braut suchen. Der Mangel an Ehefrauen macht sich auch in China bemerkbar, wo die Selektion nach Geschlecht durch Abtreibung häufig ist. Die “London Times” berichtete, dass auf Grund des Frauendefizits in China jedes Jahr Zehntausende vietnamesischer Frauen entführt und an chinesische Männer verkauft werden.

In grossen Teilen Chinas gibt es bis zu 20 Prozent mehr Jungen als Mädchen. Das führt dazu, dass chinesische Männer zur Zeit bis zu 4000 Dollar für entführte vietnamesische Frauen bezahlen, berichtete die “Times”. In den letzten Jahren ist es 33000 entführten vietnamesischen Frauen gelungen, aus China zu entkommen, aber es wird eine um ein Vielfaches höhere Dunkelziffer von Frauen angenommen, die noch gefangen sind, schrieb die Zeitung.

Selektive Sicht

Das Problem der Mädchenknappheit ist wohl bekannt -- in den letzten Monaten veröffentlichte sowohl die “Washington Post” als auch die “Chicago Tribune” lange Artikel darüber. Die Leser des letzten Berichts des UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) mit dem Titel: “Stand der Weltbevölkerung” werden jedoch vergeblich nach einer Analyse des Problems suchen.

Der Bericht des Jahres 2002, der im Dezember veröffentlicht wurde, dreht sich um die Frage, wie die Familienplanung Entwicklungsländern und Frauen helfen kann. Ein ganzes Kapitel ist dem Thema “Frauen und Geschlechtsungleichheit” gewidmet. Mit keinem Wort jedoch wird erwähnt, wie die Familienplanung zum Tod von Millionen von Mädchen in den volkreichsten Nationen der Welt geführt hat.

In der Tat vertritt der UNFPA-Bericht einen sehr selektiven Standpunkt, was Bevölkerungsfragen angeht. Er drängt auf eine Erhöhung der Mittel für die Finanzierung der Familienplanung, um so die Armut in den Entwicklungsländern zu reduzieren.

Die Beziehung zwischen Bevölkerung und Wirtschaftswachstum ist jedoch kompliziert. Die Wirtschaftsexperten sind sich nicht darüber einig, ob die blosse Reduzierung der Kinderzahl zu höherem Wachstum führen wird. Eine der Quellen, auf die sich der UNFPA-Bericht stützt, ist die Sammlung von Abhandlungen unter dem Titel “Bevölkerungs-Angelegenheiten: Demographischer Wandel, Wirtschaftswachstum und Armut in der Dritten Welt” aus dem Jahr 2001. Eine ausführliche kritische Besprechung dieses Buches in der Ausgabe der “Population and Development Review” vom vergangenen Juni wies auf die vielen Schwierigkeiten hin, die mit diesem Thema verbunden sind.

Diese Zeitschrift, eine Publikation des privaten ‚Bevölkerungs-Rates‘, der selbst aktiv für Familienplanung wirbt, bemerkt, dass, von vornherein schon die meisten Daten in den Essays ziemlich alt sind, mit nur wenigen Kapiteln, die Informationen aus den 1990ern enthalten. Die Zeitschrift weist auch darauf hin, dass die Experten sich nicht darüber einig sind, welche Rolle der Demographie in Modellen zum Wirtschaftswachstum zuzuweisen ist. Zwar hätte die Bevölkerungsstärke sicher einen Einfluss, schreibt das Magazin am Schluss, aber nur sehr wenig wisse man über die Art des Zusammenhangs zwischen Bevölkerungswachstum und Armut.

Globale Vergreisung

Für einen Bericht, der zum Ziel hat, die Beziehung zwischen Demographie und Wirtschaftsentwicklung zu untersuchen, schweigt der UNFPA über ein immer mehr Länder bedrängendes Problem auf merkwürdige Weise -- nämlich die globale Vergreisung, die auf Kindermangel zurückzuführen ist.

Ein aktueller Dokumentarbericht des “Wall Street Journals” über den Geburtenrückgang wies darauf hin, dass der Rückgang, der in Westeuropa schon lange verzeichnet wird, sich jetzt auch in Osteuropa, Asien und Lateinamerika ausbreitet. Und in vielen Entwicklungsländern -- Indien, Indonesien, Brasilien, Mexiko und dem Iran -- sinken die Geburtenraten schneller als vorhergesagt.

In der Tat schätzt jetzt die ‚United Nations Population Division‘ (die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen), ein professionelles demographisches nicht mit UNFPA verbundenes Zentrum, dass die Weltbevölkerung (zur Zeit sechs Milliarden) sich bis 2050 bei ungefähr neun Milliarden einpendeln könnte. Vor zehn Jahren wurde mit einem Höchststand von 12 Milliarden gerechnet.

Mit dem Geburtenrückgang gehen das Altern der Bevölkerung und eine ganze Reihe wirtschaftlicher Probleme Hand in Hand. Eine der vielen jüngsten Studien über dieses Thema, “Die gesamtwirtschaftliche Auswirkung der globalen Alterung”, von Robert S. England meint dazu: “Es herrscht weitgehend Übereinstimmung darin, dass durch das Altern der Bevölkerung das Wirtschaftswachstum niedriger sein wird, als es wäre , wenn der Anteil der Älteren nicht wachsen würde.”

Englands Buch weist auf Untersuchungen hin, die von der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt wurden und zeigen, dass für alternde Länder die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie infolge wachsender Gesundheitskosten und Pensionszahlungen unter einem Rückgang privater Ersparnisse und einer Zunahme staatlicher Verschuldung leiden werden. Wirtschaftliche Modelle deuten darauf hin, wie ein Schrumpfen der arbeitenden Bevölkerung die Wirtschaftswachstumsrate bis zu einem Prozent oder mehr senken könnte

Dies wurde in einer jüngsten Studie der EU bestätigt, die voraussagte, dass die potenzielle Wachstumsrate der EU-Wirtschaft sinken könnte, auf gerade noch 1,25 Prozent pro Jahr, das wäre die Hälfte der Rate in den USA. Dieser Unterschied zu den USA würde dadurch verursacht, dass Europa stärker altere als Amerika, dessen Wirtschaft durch Migration und steigende Geburtenraten angekurbelt werde, hiess es in der “Financial Times”.

Das Schrumpfen der arbeitenden Bevölkerung verursacht bereits in einigen Ländern Probleme. Das Büro für Statistik der kanadischen Regierung gab am 11. Februar einen Bericht heraus, der darauf hinwies, dass das Steigen des Durchschnittsalters bei den Arbeitskräften Grund zu Sorge um den Gesundheits- und Bildungssektor gebe. Ausserdem seien die Ärzte schon jetzt im Durchschnitt älter als das Gros der Arbeitskräfte, “was die Besorgnis über mögliche Defizite verstärkt.”

Und in Schottland fand eine Studie des “Global Entrepreneurship Monitor” (globaler Unternehmerschaftsmonitor) heraus, dass die niedrige Geburtenrate die Ursache für die niedrige Zahl von Firmengründungen in der Region sein könnte, berichtete die “Financial Times” am 12. Februar. Schottlands Bevölkerung nimmt seit 1974 kontinuierlich ab und, wie der oberste Standesbeamte verlauten lässt, wird diese Tendenz anhalten.

Darüber und über andere Probleme schweigt sich der Bericht des UNFPA aus. Der pessimistische Standpunkt hinsichtlich des Bevölkerungswachstums, -- (Schreckgespenst ‚Bevölkerungsexplosion‘) -- ist in den letzten Jahren zunehmend in Verruf gekommen. Es wäre an der Zeit, dass jemand den UN-Bevölkerungsfonds auf den neuesten Stand bringt.

Datum: 25.02.2003
Quelle: Zenit

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