„Unter den Menschen gibt es viel mehr Kopien als Originale“

Pablo Picasso

Mit dieser Feststellung verspottete der spanische Maler Pablo Picasso den kollektiven und deshalb nur scheinbaren Individualismus unserer Gesellschaft. Heute ist das Denken der 68er Generation, das damals so viele Bürgerliche erschreckt hat, zur allgemein akzeptierten Norm geworden. Jeder lebt nach seiner Fasson. Sich längerfristig irgendwo zu verpflichten, ist «out». Das, wonach ich gerade Lust habe, ist «in». Individuelles Leben nach dem Lustprinzip ist angesagt. Heute gilt das Motto: «Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht».

Sehnsucht nach Freiheit

Allerdings, es ist zu einfach, bloss auf Entwicklungen mit dem Finger zu zeigen und sich dabei erhaben zu fühlen. Der Individualismus ist Ausdruck der Sehnsucht nach Freiheit. Neben dem Individualismus gibt es aber auch den Begriff der Individualität, also der schöpfungsmässigen Einzigartigkeit. Individualität drückt aus, dass es die Einzigartigkeit des Menschen nur im Vergleich auf ein Gegenüber gibt. Ohne ein Gegenüber kann ich nicht von meiner Identität oder Individualität sprechen. Ich kann nur dann «ich» sagen, wenn ich zugleich auch «du» sagen kann. Mein «ich» wird erst neben dem «du» erfahrbar.

Das Individuum braucht den Mitmenschen

In diesem Sinne ist Individualität eben gerade nicht Vereinzelung, Rückzug auf sich selbst, sondern drängt zum Mitmenschen hin. Deshalb heisst es nicht «Liebe deinen Nächsten!», sondern «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Die Selbstannahme wird hier vorangestellt, vor die Liebe zum Nächsten. Daraus ergibt sich eine Wechselwirkung. Ich kann den Nächsten gar nicht lieben, wenn ich mich nicht annehme. Und ich kann mit mir nicht klar kommen, wenn ich ein gestörtes Verhältnis zum Nächsten habe. Also geht es hier nicht einzig um Nächstenliebe, sondern auch um Selbstannahme. Schöpfungsmässige Individualität zu entdecken, hat mit Zuwendung und Verbindlichkeit zu tun, bewirkt deshalb genau das Gegenteil des zeitgenössischen Individualismus.

Datum: 15.05.2002
Autor: Ernst Liechti
Quelle: Impuls

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