«Ich bin eine Schein-Invalide!»

Handicap ist kein Hindernis

Simone Leuenberger ist auf Hilfe angewiesen. Drei Personen unterstützen sie bei der Körperpflege und im Haushalt. Trotzdem bezieht sie keine IV-Rente.
Simone Leuenberger
Simone Leuenberger

«Wer mich sieht, ist überzeugt, eine IV-Rentenbezügerin vor sich zu haben», stellt Simone Leuenberger fest. Das stimmt aber nicht, auch wenn sich die 41-Jährige nur im Elektro-Rollstuhl bewegen kann! Sie dreht den Spiess um und scherzt: «Ich bin also eine Schein-Invalide!» Doch Simone kann keine Flasche öffnen und den Knopf im Lift nur mit Hilfe eines Stocks drücken. Ihr fehlt die Kraft in Armen und Beinen. Sie war zwei Jahre alt, als bei ihr Spinale Muskelatrophie, eine progressive Muskelkrankheit, diagnostiziert wurde. Nachdem sich die Vorbehalte der zuständigen Personen nicht bestätigt hatten, konnte sie die reguläre Schule besuchen und später auch studieren.

WG mit Freundin und Assistentin

Seit ihrem zweiten Studienjahr lebt die zierliche Frau in einer Wohngemeinschaft. Heute teilt sie das Stöckli eines Bauernhauses in Uettligen bei Bern mit ihrer Freundin Martina, die gleichzeitig als eine von drei Assistentinnen bei ihr angestellt ist. Morgens helfen sie Simone abwechslungsweise bei der Körperpflege, beim Anziehen, setzen sie in den Rollstuhl. Wenn sie weg will, fährt sie über eine Hebebühne in ihren speziell für sie ausgestatteten VW-Bus. Sie parkiert den Rollstuhl auf der Fahrerseite und steuert ihr Auto selbständig. So fährt sie regelmässig nach Thun. An der Wirtschaftsmittelschule arbeitet sie in einem 50-Prozent-Pensum als Lehrerin für Wirtschaft und Recht. Ausserdem ist sie zu 20 Prozent bei AGILE angestellt, einer Organisation von Menschen mit Behinderung, wo sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Sozialpolitik tätig ist.

«Ich wollte es genau wissen»

Kirchenbesuch und Sonntagsschule kannte Simone Leuenberger schon als Kind. Doch dass man eine persönliche Beziehung zu Gott haben kann, das lernte sie am Beispiel ihrer Mitbewohnerin Martina. Die junge Deutsche hatte ein Zimmer in der Gegend gesucht, um eine Jüngerschaftsschule zu besuchen. Schliesslich zog sie in die WG von Simone und einer Psychologiestudentin ein. Mit ihr führte sie viele Diskussionen und Simone hörte interessiert zu. «Ich dachte damals, Glauben sei etwas für einfache Menschen, und ich hatte schliesslich studiert!», erzählt sie. Dann las sie das Buch «Fragen an das Leben» von Nicky Gumbel und wollte genauer wissen, was in der Bibel steht. Innerhalb von drei Monaten las sie das gesamte Neue Testament durch und begann, mit Gott zu reden. «Irgendwann habe ich mir gesagt: Wenn es Gott gibt, ist die Bibel wahr.» Als logische Konsequenz vertraute sie ihm nach einigem Ringen ihr Leben an.

Einheit und Liebe unter Christen

Als sie vom Verein Glaube und Behinderung erfuhr, nahm sie begeistert an einer Bibel- und Seelsorgefreizeit teil. Später wurde sie Vorstandsmitglied. Seither engagiert sie sich für den Verein. Sie nimmt Einladungen an, um in Klassen der kirchlichen Unterweisung oder an anderen Anlässen über ihr Leben mit einem Handicap zu erzählen. «Ich betone immer, dass Gott jeden von uns gut geschaffen hat und liebt. Er hat einen Auftrag für uns, nämlich seine Liebe in die Welt zu tragen.»

Simone Leuenberger ist die Einheit unter Christen ein grosses Anliegen. «Daran und an der Liebe soll man uns erkennen!», ist sie überzeugt. Mit Martina zusammen besuchte sie kurz eine New-Life-Gemeinde. Dann gründeten die beiden in ihrer Stube eine Hausgemeinde, um den Glauben mit Menschen aus der Nachbarschaft zu leben. Später teilte sich diese und die beiden Frauen führten ihren Teil mit den Heranwachsenden weiter, während deren Eltern neue Familien aufnahmen.

«Inklusion heisst, mit uns, nicht über uns zu reden»

Dank ihrer vielen Talente ist Simone Leuenberger auch ein Sprachrohr für Menschen mit Behinderung. Sie wünscht sich, dass diese einbezogen werden, und nicht über ihre Köpfe hinweg geplant wird. Durch ihre Tätigkeit als Lehrerin sensibilisiert sie junge Leute für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung. Dabei ist ihr wichtig, auch auf psychische Beeinträchtigungen hinzuweisen. «Betroffene leiden unter einem doppelten Stigma, denn ihnen sieht man ihr Leiden oft nicht an.» Auch die Verantwortlichen von Kirchen und Gemeinden möchte sie aufmerksam machen, wie bauliche Hindernisse, aber auch falsche Vorstellungen über Gottes Gedanken zu Heilung ausgeräumt werden können. «Es wäre schön, man würde mit uns, statt für uns etwas planen. Wir sind genauso Jünger Jesu wie alle anderen und wollen wie sie zum Gemeindeleben beitragen», sagt Simone Leuenberger.

Unabhängig reisen dank Wohnwagen

Dass auch als Rollstuhlfahrerin viel möglich ist, beweist sie eindrücklich. Während drei Monaten bereiste sie per Camper die USA und Kanada. Dann liess sie sich einen Wohnwagen bauen, der auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet ist. So muss sie nicht immer abklären, welche Unterkünfte barrierefrei sind. Auto und Wohnwagen bezahlte sie selber, nur den Umbau ihres Autos übernahm die IV. Auch für ihre Assistentinnen bezieht sie Beiträge. «Diese Gelder stehen uns zu, aber wir müssen oft trotzdem dafür kämpfen», sagt sie. Dabei fahre der Staat damit besser, als wenn er Heimkosten übernehmen müsste. Als erwerbstätige Frau kann sie sich selbst finanzieren und leistet als offizielle Arbeitgeberin ihrer Assistentinnen auch Sozialabgaben. Nach unserem Gespräch kurvte Simone Leuenberger geschickt über Rampen durch Stube und Küche vors Haus, wo sie inmitten einer Fülle von Blumen die Sonne geniessen kann.

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Datum: 04.09.2016
Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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