Die Krise des Gesundheitswesens hat auch religiöse Gründe

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Es gibt in unserer religionsmüden Gesellschaft noch einen heiligen Ritus, der alle verbindet, religionsübergreifend vom Atheisten bis zum Fundamentalisten, schichtenübergreifend vom Arbeiter bis zum Bankdirektor und parteiübergreifend von links bis rechts: die Geburtstagsfeier. Und im Rahmen dieser Feierstunden der individualisierten Zivilgesellschaft wird bei Leuten über 65 Jahre unerbittlich wie das Amen in der Kirche in mindestens einer Festansprache der Satz zelebriert: “... und das höchste Gut, meine Damen und Herren, ist doch die Gesundheit.” – Beifall.

Wer sich gesund fühlt ...

Was wird nicht alles für die Gesundheit getan: Vom Fitness-Kult über die Vollkostnahrung bis zur Gesundheitsfarm. Krankenhäuser sind inzwischen zu Kathedralen der Moderne geworden. Wer sich dennoch gesund fühlt, ist möglicherweise noch nicht ausreichend untersucht worden. Die totale Beanspruchung des ganzen Lebens durch gesundheitsfördernde Massnahmen nimmt sich allerdings aussichtslos aus angesichts der Feststellung, dass nur etwa 10 Prozent aller Krankheiten überhaupt durch persönliche Lebensführung beeinflussbar sind, während 20 Prozent biologisch vorgegeben und 70 Prozent im weitesten Sinne umweltbedingt sind. Wenn Gesundheit das höchste Gut ist, dann ist es kein Wunder, dass sie einen hohen Preis hat und das Gesundheitssystem fast ununterbrochen in der Krise steckt.

Die teuerste Religion

Die Gesundheitsreligion ist die teuerste Religion aller Zeiten. Es wird gerechnet, dass allein die Ausgaben der Krankenkassen in Deutschland im Jahr mehr als 250 Milliarden Euro betragen. Das ist mehr als der gesamte Bundeshaushalt (2002: 242 Milliarden Euro). Wenn man darüber hinaus den viel umfangreicheren gigantischen Gesundheitspflegebereich vom Fitnesscenter bis zum Vollkostfrühstück mit berücksichtigt, könnte man auf die Idee kommen, dass unsere gesamte Volkswirtschaft inzwischen ein einziges Dienstleistungsunternehmen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit ist. Jedenfalls ist das Gesundheitswesen inzwischen ein so gewaltiger Koloss geworden, dass die massive Kostensteigerung in diesem Bereich, die die westliche Welt in den letzten Jahren zu beunruhigen begonnen hat, zweifellos eine dramatische Gefährdung der weiteren Entwicklung unserer Gesellschaften darstellt.

“Das vermindert die Hektik”

Das Christentum kappt den ungeduldigen, gehetzten Überschwang, der die Gesundheitsreligion prägt. Es hält deren Ziele nicht für belanglos oder verächtlich, aber es hält sie nicht für herstellbar, sondern nur für anstrebbar. Gesundheit ist im Letzten ein Geschenk. Die Theologie nennt das Gnade. Man spricht auch von begnadeter Schönheit und Anmut. Dennoch tut man etwas dafür, denn Weltverachtung und Fatalismus sind dem Christentum fremd.

Allerdings: Was man tut, das tut man mit Massen. Nicht alles erhofft man von der Medizin, sondern vieles, denn alles erhofft man allein von Gott. Das vermindert die Hektik. Das steigert die Lebenslust an dem, was man hat und geniessen kann, ohne sich irgendwie durch ein nichterreichtes absolutes Ziel die Stimmung verderben zu lassen.

Autor: Manfred Lutz

Datum: 22.02.2003
Quelle: idea Deutschland

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