Von der unheiligen Allianz zwischen Technik und Religion

Sergeant Anderton (Tom Cruise) mit einem Precog.
Der Jäger wird zum Gejagten.

Die Technik macht die Religion überflüssig? Man glaubt entweder an eine höhere Macht oder an den Fortschritt? In seinem Film "Minority Report" bricht Steven Spielberg vehement mit dieser Art Bekenntnis. Die Technik wird im Jahre 2054 zur Religion. Oder sollte man besser sagen: Die Religion, das Paranormale, wird technisiert?

Computer projizieren die Gedanken von hellsichtigen Menschen, den sogenannten Precogs, auf transparente Bildschirme, und ein gewiefter Polizist jongliert die Wahrnehmungsfetzen mit Digitalhandschuhen so lange, bis die Wahrheit, die vermeintliche, "ans Licht kommt": ein Mord, der innerhalb der nächsten Stunden geschehen soll. Mit ihren fliegenden Motorrädern und ähnlichem Arsenal ausgestattet, kann nun der Arm des Gesetzes zur Stelle sein, noch bevor die Tat ausgeführt wird. Verhaftet und dingfest gemacht wird trotzdem. "Hier gilt nämlich nicht die Unschuldsvermutung."

Mehr Geistliche als Cops

In einem High-Tech-Labor liegen sie, diese drei Wesen, die man "besser nicht als Menschen anschaut", wie einem Besucher bei einer Führung erklärt wird. "Nein", erwidert der, "sie sind mehr als Menschen." Sind sie Götter? Vielleicht. Die fluroreszierende Flüssigkeit, in der sie liegen, lässt sie jedenfalls als Lichtgestalten erscheinen. "Die Photonen dienen als Nährstoff und technischer Leiter", und unter den Mitarbeitern würde dieser Raum "Tempel" heissen. Passend dazu das Instrument in der Vorhalle. Mit einem entschuldigenden Lächeln erklärt der hingegebene Organist: "Das mögen die Precogs ganz besonders." Die drei Jahre Priesterseminar jenes hochrangigen Vertreters des Bundesstaatsanwalts wirken wie ein Teil seiner Ausbildung. "Wir sind hier mehr Geistliche als Cops", bekennt ein Precran-Mitarbeiter.

Dem Traum von einem Leben in Sicherheit, ohne Verbrechen, ohne dem Einbruch des Zerstörerischen, glaubt man sich im Washington des Jahres 2054 nähergekommen. Die Polizei hat das Verbrechen, jedenfalls die (potentiellen) Morde, im Griff. Ja, die ganze Gesellschaft befindet sich vollkommen im Griff eines entfesselten Polizeiapparats und der Konsumgüterindustrie. Die allgegenwärtigen Iriskontrollen gewähren nur demjenigen Zugang in dieses Büro oder jene Fabrik, der dazu befugt ist, und von den Plakatwänden werden die Menschen "bei ihrem Namen gerufen". Die Razzia in einem finsteren Block übernehmen winzige spinnenhafte Überwachungsroboter, welche die Retina der Bewohner abscannen, nachdem zuvor auf der Infrarotkamera ganze Stockwerke zur Puppenstube mit Wärmebildflecken geschrumpft wurden. Die Menschen nehmen das ganz beiläufig hin. Eine beängstigende Beschneidung der Intimsphäre? Massive Eingriffe in die persönlichen Freiheiten? Der Werbespruch für die landesweite Einführung des Precran-Systems entzieht solchen widerborstigen Einwänden den Stachel: "Nur ein Leben in Sicherheit garantiert auch ein Leben in Freiheit.."

Sergeant Anderton (Tom Cruise) ist ein eifriger Verfechter dieses Traums; für ihn ein Stück seiner persönlichen Vergangenheitsbewältigung. Vor einigen Jahren war sein Junge, den er über alles geliebt hatte, entführt worden und ist seitdem spurlos verschwunden. Derartige Verbrechen will er nun verhindern helfen. Was also wie ein beängstigender elektronischer Würgegriff des Staates erscheinen mag, gibt sich als grösste Fürsorge. "Der Ursprung dieses Glaubens (an das Precran-System) ist Schmerz, nicht Politik", erklärt dessen zwielichtiger Erfinder. Wer wollte hier opponieren, wenn Schmerz gelindert, ja sogar verhindert werden soll? Denn "nichts verletzt das metaphysische Geflecht, das uns verbindet, so sehr wie ein Mord durch menschliche Hand."

In früheren Zeiten war die Natur lebensbedrohlich und wurde zugleich und auch deswegen vergöttert. Die Technik half bei ihrer Entgötterung. Es blieb das Böse, es blieb das Morden. Jetzt, im Jahre 2054, betreibt die Technik selber den Gegenzauber und bedient sich maschinisierter Hohepriesterinnen. Der Mythos ist zurückgekehrt. Die Technik in Gestalt des Precran-Systems und der omnipräsenten Überwachungsanlagen bedroht nun ihrerseits den Menschen und ruft nach einer Entzauberung.

Der Jäger wird zum Gejagten

Sie geschieht ausgerechnet dann, als sich Sgt. Anderton selber in einer "Vorhersage" der Precogs wiederfindet und schliesslich das System, an das er selber so fest geglaubt hatte, entlarvt. In allernächster Zeit würde er jemanden umbringen. Der Jäger wird zum Gejagten. Anderton vermutet einen Betrug und entführt den "Leitgeist", das Medium Agatha. Und tatsächlich: Es erweist sich, dass manche Menschen eine "alternative Zukunft" haben, wie sogar die Mutter des Systems, jetzt eine schrullige High-Tech-Gärtnerin, einschränkt. Nur wird diese Zukunft von dessen jetzigen Leitern unterschlagen. "Die Precogs irren niemals. Nur sind sie sich nicht immer einig." Es existieren also "Minority Reports", gespeichert in Agatha.

Die Freiheit meldet sich zurück in Form der alten Frage nach Vorherbestimmung und freiem Willen. Agatha selber unterstreicht diese Spannung. Wenn ihre Visionen sie überfallen, stösst sie ein flehendes "Kannst du es sehen?" aus. Die Zukunft hat Macht über sie gewonnen und erscheint als bedrohliches Factum. Sobald aber Anderton kurz vor seinem "Mord" steht, fleht sie ihn kaum weniger inbrünstig an: "Du hast die Wahl, John!"

Vermengung von Religion und Machbarkeit

Steven Spielbergs "Minority Report" - ein grosses Plädoyer für eine Entmythisierung der Technik? Statt einer manipulierten Sicherheit ein lebensbejahender Atheismus gegen den Technikglauben? Sind Ungewissheit, Unsicherheit, gesteigert bis zur Freiheit fürs Böse, denn doch unsere gesetzten Lebenselemente? Im Film jedenfalls wird jene verhängnisvolle Vermengung von Religion und Machbarkeit schlussendlich zurückgewiesen. Aber der spielt ja auch erst im Jahre 2054. Bis dahin, so steht zu befürchten, werden wir erst noch weitere Schritte unternehmen in Richtung Vermengung, Manipulation, Unfreiheit. Dazu einige Schlaglichter auf aktuelle Entwicklungen:

- Ähnlich wie im Film soll bereits in zwei Jahren "elektronisches Papier" probeweise gedruckte Tageszeitungen ersetzen. Die Firmen E-Ink und Gyrikon Media arbeiten daran.

- US-amerikanische Behörden sind bereits dabei, Gedankenströme von vorbeilaufenden Flugpassagieren elektronisch aufzuzeichnen und auf Mord-Gedanken hin zu filtern. Das System wird erprobt und soll, falls es sich bewährt, an wichtigen Stellen eingesetzt werden. Programme zur Gesichtsidentifizierung werden bereits verwendet.

- Im Jahr 2054 werden die Kunden dank Iriserkennung namentlich von den Plakatwänden angesprochen. Wenn es nach schottischen Firma Harris Hynd Ltd. geht, werden in unseren Städten in den kommenden Jahren Plakate installiert, deren gesamte Oberfläche wie ein einziger Lautsprecher funktioniert, wetterbeständig und in CD-Qualität. Sobald sich potentielle Kunden nähern, springt die Sache an.

Wie man dieser neuen, selbstgemachten Mythisierung unserer Gesellschaft am besten entgegenwirkt, ob mit neuer Technik oder mit erneuertem Glauben, das ist wohl seinerseits eine Glaubensfrage, und zwar keine unwichtige.

Datum: 13.11.2002

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