„Gott öffnete die Archive“

Galina Ivanova, Historikerin
Buch

Am 3. Oktober gab es in Moskau einen Aufmarsch mit Transparenten wie “Lenin, Stalin, Kommunismus” – eine von der Polizei ungehinderte Demonstration für das Wiederaufleben der Sowjetunion. In Deutschland wäre es unvorstellbar, dass für die erneute Herrschaft von Nationalsozialisten öffentlich geworben würde. Wie aber ist es möglich, dass in Russland bis heute zwei der grössten Massenmörder der Weltgeschichte – Lenin und Stalin – öffentlich gefeiert werden dürfen?

Verbrechen nicht bestraft

Galina Ivanova, Historikerin am Institut für Russische Geschichte an der Akademie der Wissenschaften in Moskau, hat dafür eine klare Antwort: Im Gegensatz zur Situation in Deutschland ist die Vergangenheit der Sowjetunion bisher nicht aufgearbeitet worden. Die russische Regierung unter dem ehemaligen KGB-Mitarbeiter Wladimir Putin verbiete zwar nicht die Forschung über die Vergangenheit, aber sie sei nicht gern gesehen. Es gebe weder ein Schuldbewusstsein für die schrecklichen Verbrechen der Vergangenheit noch eine Busse oder gar eine Bestrafung der Schuldigen. Ehemalige Lagerverwalter von sowjetischen KZs trügen ihre Orden bei jeder Gelegenheit.

Lenin liess erste KZs bauen

Dabei stehen die Verbrechen in nichts denen der Nationalsozialisten nach: 1918 wurden auf Befehl Lenins die ersten KZs eingerichtet. Insgesamt gab es 476 KZs, in denen über 20 Millionen Menschen inhaftiert waren, darunter zahllose Christen. Allein zwischen 1941 und 1945 starben in den KZs über zwei Millionen Menschen. Bisher hatte man vieles geahnt, aber es fehlten – von Ausnahmen abgesehen – handfeste schriftliche Belege für die Verbrechen. Die Archive dürfen bis heute gar nichts bzw. nur wenig herausgeben. Denn das Motto der russischen Regierung lautet: “Wir sollten die Vergangenheit vergessen.” Doch immer mehr Kinder und Enkel wollen wissen, was mit ihren Eltern und Grosseltern geschah, die in KZs verschwunden sind.

Die Wege Gottes

Die Leiterin eines der bedeutendsten russischen Archive war schon zur Zeit der Sowjetunion Christin, aber sie hatte es nie gewagt, sich zu offenbaren, denn dann hätte sie ihren Posten verloren. Nach dem Ende der Sowjetunion wollte sie, dass das Schicksal der zahllosen christlichen Märtyrer bekannt wird. Aber wem konnte sie sich anvertrauen? Eines Tages stand die Historikerin Ivanova in ihrem Archiv. In einem längeren Gespräch bekannte sie, dass sie Christin sei. Das war für die Archivleiterin geradezu eine Gebetserhörung. Jetzt hatte sie endlich jemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Auf diese Weise konnten erstmals Originaldokumente über das riesige sowjetische KZ-System – samt der Verfolgung der russisch-orthodoxen Kirche – veröffentlicht werden. Die darüber überglückliche Historikerin Ivanova vor einem kleinen Kreis im Rahmen der Frankfurter Buchmesse: “Gott selbst hat die Archive geöffnet.”

Kein Interesse an roten Tätern?

Von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM, Frankfurt am Main), die die Herausgabe des Buches (I. W. Dobrowolski (Hg.), Schwarzbuch GULAG, Leopold Stocker Verlag 2002) unterstützt, hiess es, man sei traurig, dass auf der Frankfurter Buchmesse zu einer Pressekonferenz, wo sie ihr Buch vorstellen wollte, fast niemand gekommen sei. Zur gleichen Zeit hätten Holocaust-Zeugen ihr Buch vorgestellt, und massenhaft Journalisten seien gekommen. Dabei seien die Verbrechen der Kommunisten doch nicht weniger schlimm als die der Nationalsozialisten gewesen. Aber für die roten Diktatoren interessiere sich kaum jemand.

Schwarzbuch Gulag

Die sowjetischen Konzentrationslager

312 Seiten, 50 S/W-Abbildungen, Gebunden
Autor: Dobrowolski, I.W. (Hrsg.)
ISBN: 3-7020-0975-2
Verlag: Stocker

Preis: 29,90 Euro

Von bedeutenden russischen Wissenschaftlern verfasst, schildert das Buch eine der Säulen, auf denen die sowjetische Herrschaft in Ruland ruhte: Die Errichtung eines riesigen Komplexes von Konzentrationslagern, die auf Befehl Lenins geschaffen wurden und unter dem Namen "Gulag" Millionen Opfer forderten. Die Rolle der Zwangsarbeit, die allgemeine Situation in den Lagern und Sonderlagern werden ebenso beschrieben wie die Kader, die den Gulag betrieben, die politischen und organisatorischen Hintergründe sowie die historische Entwicklung bis in die Zeit Gorbatschows.

Die Entkulakisierung, also die Umsiedlung und Vernichtung des entwickelteren Bauernstandes, füllte das bolschewistische Lagersystem, soferne die "Umgesiedelten" nicht einfach irgendwo in den Weiten Sibiriens ihrem Schicksal überlassen wurden, ohne Unterkunft für den Winter, ausreichend Nahrung oder genügend Gerät für landwirtschaftliche Tätigkeit, was zahllose Opfer forderte.

Schliesslich wird die blutige Verfolgung der orthodoxen Kirche dokumentiert, die Zerstörung von Sakralbauten ebenso wie der Opfergang von Priestern und Laien, der sie direkt ins Gulag-System führte.

Nicht nur Dokumente und nüchterne historische Darstellung schildern diese Geschehnisse, auch Zeitzeugen kommen zu Wort, und zahlreiche Photos und Zeichnungen illustrieren das Geschilderte.

Die Autoren:

Univ. Prof. G. I. Iwanowa ist Leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für russische Geschichte bei der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Univ. Prof. T. I. Slawko ist Dekan der Fakultät für Verwaltung und Soziologie an der Staatlichen Universität Twer.

G. F. Wesnowskaja ist Abteilungsleiterin bei der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation.

W. Russak ist Kunsthistoriker und Ikonenmaler.

A. N. Artjomow ist Politiker.

I. W. Dobrowolski ist Bürgerrechtler.

Quellen. Idea.de/bg

Datum: 28.10.2002

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