Indessen stellt sich die Frage. Lohnt es sich, Marthaler in Zürich zu behalten? Ist der Mann wirklich so gut wie sein Ruf? Immerhin erhielt er renommierte Preise für seine Inszenierungen und verhalf dem Schauspielhaus zum Titel "Theater des Jahres". In politischen Kreisen hat man nichts gegen Marthaler, nur: er muss sich ans Budget halten und das Theaterpublikum zurückholen. Einige Stimmen dazu. Zuweit möchte der Schauspieler und Regisseur R. in seinem Urteil nicht gehen. R. spielte selbst vor Jahren am Schauspielhaus noch unter früheren Direktoren. "Stöffi" kenne er aus alten Zeiten, als dieser noch "dünn, hager und unbekannt" gewesen sei. R. hat "Hotel Angst" gesehen, wohl Marthalers wichtigste Arbeit als Regisseur. Das sei "kein schlechtes Theater" gewesen, sagt R. Was R. an Marthalers Intendanz neben dem unmässigen Umgang mit Steuergeldern vorwirft, ist, dass er und sein Theater in seiner eigenen Welt lebe, im Elfenbeinturm. Da müsse man sich nicht wundern, wenn das Publikum wegbleibe. Die städtischen Theater hätten heute "panische Angst, dass sie moderne Entwicklungen verpassen könnten", so R. Es werde oft für die Kritiker des Feuilletons inszeniert, nicht fürs Publikum. "Man kann heute einfach alle schrägen Regisseure Europas einladen. Dann wählt einem die Kritik zum besten Theater des Jahres, bevor man überhaupt etwas gezeigt hat", karikiert R. die Szene. Beat Müller, seines Zeichens auch "Theaterdirektor" der Schauspiel G.m.b.H. im Zürcher Unterland, ist überzeugt, dass Theater ohne Publikum kein vollständiges Kunstwerk sei. Die Zuschauer gehörten dazu. Was Marthaler treibe, sei "Selbstbefriedigung auf Staatskosten", so Müller. Ein Intendant müsse sich auch ans Budget halten. In den USA habe er das Gegenteil erlebt. Weil dort keine staatlichen Gelder flössen, werde alles extrem kommerziell aufgezogen, oft auf Kosten der Kunst. Gutes Theater müsse eine Balance zwischen diesen beiden Extremen finden. "Gottloses Theater" hat Müller bei Marthaler nicht vorgefunden. Er habe das Stück "Polaroid" gesehen, ein provokatives, teilweise schockierendes Theater, dessen Inhalt durchaus zum Nachdenken angeregt habe. Provokation müsse manchmal sein. Das Theater habe dem Publikum einen Spiegel vorzuhalten. "Um Perversion aufzuzeigen, muss das Theater manchmal etwas pervers sein", glaubt Beat Müller. Der Sekretär der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) des Kantons Zürich, Daniel Suter, fährt gegen Marthaler hingegen mit scharfem Geschütz auf. Marthaler habe mit der Inszenierung des "Messias", einer "blasphemischen Parodie auf Weihnachten", so Suter, ein Beispiel inhaltslosen, ja gotteslästerlichen Theaters geboten. Marthalers unrühmlicher Abgang erinnere an die Tatsache: "Gott lässt sich nicht spotten; was der Mensch sät, wird er ernten." Ohne Zweifel sei der Allmächtige ein aufmerksamer Beobachter der Zürcher Kulturszene und mache auch hier dem gottlosen Treiben ab und zu ein Ende, schreibt Suter im "Wort zum Montag" vom 8. September.Angst moderne Entwicklungen zu verpassen
Zwischen Kunst und Kommerz
Gott lässt sich nicht spotten
Datum: 26.09.2002
Quelle: ideaSpektrum Schweiz