Mit allen Sinnen kreativ sein

krea
Umberto Eco

Was ist das Geheimnis der Kreativität? Wie kommt es, dass bei dem einen die Ideen und Einfälle nur so sprudeln und bei dem anderen anscheinend ein dickes Schloss vor der Tür zu seiner Kreativität hängt?

Ist das nur Veranlagung oder kann man Kreativität fördern und ihr auf die Schliche kommen? Der schrifsteller Umberto Eco sagte einmal: "Um eine gute Geschichte zu schreiben, braucht man 10 Prozent Inspiration und 90 Prozent Transpiration“. Kreativität hat also auch etwas mit handwerklichem Können zu tun.

Etwas Chaos braucht der Mensch

Leute, die kreativ sind, haben oft etwas Chaotisches an sich. Ich denke, bei allen Menschen gibt es ein gewisses chaotisches Potential, nur die einen schaffen es, dieses Chaos auszublenden und abzudrängen, vielleicht, weil sie Angst davor haben, und die anderen lassen etwas Chaos zu, weil sie spüren: Kreative Prozesse beginnen im Chaos, im noch Formlosen und Leeren.

Menschen, die sich nur für klare Ordnungen begeistern können und überhaupt keinen Sinn für ein schöpferisches Chaos haben, tun sich schwer damit, kreativ zu werden. Es ist zwar alles ordentlich in ihrem Leben, aber auch alles ziemlich steril. Ausserdem: nicht jeder Mensch muss unbedingt Kunstwerke erschaffen. Unsere Welt braucht auch die ordnungsliebenden Mitmenschen, die Planer und die Organisatoren, die manchmal, ohne es zu wissen, in ihrer Organisationsfähigkeit kreativ werden.

Die Kunst, das Chaos zu ordnen

Die Schöpfungsgeschichte ist eigentlich eine Kette von Eingriffen, die Gott im Chaos vornimmt. Dazu begibt er sich allerdings in einen bestimmten Abstand. Der Geist Gottes schwebte über den Wassern, heisst es. Ein Wort, das sonst für Vogeleltern genommen wird, die über dem Nest ihrer Jungen hin- und herfliegen. Wer mitten im Chaos versinkt, kann nicht kreativ werden. Er oder sie muss zurücktreten und in aller Ruhe und ohne Angst das noch Ungeordnete betrachten können.

In uns regt und bewegt sich nun einmal Helles und Dunkles. Und es ist hilfreich, innerlich einen Schritt zurückzutreten und zu sagen: Das alles lebt also in mir - total Verrücktes, Unanständiges, Wunderbares, Geistliches, Liebevolles, Brutales, Witziges und Zorniges, Zärtliches und Rohes.

Der Geist Gottes scheidet und ordnet: Licht und Finsternis, Wasser und Wasser, Erde und Wasser. Warum sollte ich denn nicht auch einmal Verrücktes malen oder aufschreiben? Vielleicht ist es gar nicht so verrückt wie ich immer dachte. Ich lege mir zum Beispiel beim Schreiben von vornherein keine Begrenzungen auf. Zunächst schreibe ich drauflos, und dann fange ich an zu sortieren und zu ordnen. Und daraus entsteht etwas Neues.

Übrigens hat die moderne Chaosforschung festgestellt, dass es eine heimliche Ordnung im Chaos gibt. Die Sahnespirale in meinem Kaffee, den ich gerade zufällig umrühre, ähnelt der Spirale unserer Milchstrasse...

Kreativität tut gut

"Und Gott sah, dass es gut war" lesen wir im Schöpfungsbericht. Ein immer wiederkehrender Refrain. Kreativität tut grundsätzlich gut. Da muss etwas in unserem Inneren, in unserem Bauch mitschwingen können. Eine tiefe Befriedigung über ein gelungenes Werk muss irgendwann zu spüren sein. Wer kreativ wird und es nur mit Überwindung und grosser Quälerei tut, hat irgend etwas falsch gemacht. Vielleicht will er malen, aber seine Begabung liegt im Kochen! Das hebräische Wort "tov", das meistens mit gut übersetzt wird, bedeutet nicht nur gut im Sinne eines Urteils, sondern in diesem Wort schwingt die Bedeutung von Wohlbefinden, guter Wirkung, von Schönheit mit.

Ich kam zum Schreiben, weil ich mir eines Tages sagte: Gibt es irgend etwas, wozu ich wirklich Freude und Lust habe, das von ganz innen kommt? Ja, das gab es tatsächlich. Nämlich fantasievolle Kurzgeschichten zu schreiben. An meinem freien Tag setzte ich mich oft in ein Café und fing an, mir die Geschichten auszudenken, die ich selber gerne lesen würde. Es machte mir wirklich Spass. Heute schreibe ich ganze Romane und kann sogar davon leben.

Natürlich kommt auch viel Arbeit dazu. Nicht alle Einfälle sind gut formuliert, ich muss daran feilen und verbessern, aber das Schreiben ist bei mir mit viel Lust verbunden.

Angeregt wurde ich dazu von einer Kirchengemeinde in Washington. Die Mitglieder sagten nämlich: "Wir starten ein Experiment und machen eine Zeit lang nur das, was wir wirklich gerne tun. Denn das ist das Muster, das der Heilige Geist in unseren Lebensteppich hineingewoben hat." Das war eine abenteuerliche Sache. Denn ein Gemeindemitglied, ein junger Mann, entdeckte, dass er für sein Leben gern anderen Leuten die Haare schneiden würde. Seine Kirche bezahlte ihm einen Haarschneidekurs, und er wurde ein begeisterter Friseur. Ganz nebenbei entstand eine kleine Gemeinde, die sich durch den fröhlichen Glauben des Friseurs anstecken liess. Andere entdeckten ihre Fähigkeit, alte Häuser zu renovieren, und es entstand eine kirchlich-soziale Arbeit in den Slums der Stadt.

Kreativität und Kunst muss sich nicht in Musik, Literatur oder Malen erschöpfen. Alle Bereiche, alle Sinne können vom Geist Gottes berührt werden und schöpferisch werden. Mancher ist dazu geboren, voller Freude und voller Kreativität Autos zu reparieren. Jemand anders wird kreativ beim Gestalten eines Gartens, oder kann einfach kreativ mit Kindern umgehen.

Wie kann ich meine Begabung, meine eigene Art der Kreativität, herausfinden? Indem ich viel ausprobiere, sensibel werde und dem nachspüre, was mir wirklich Freude macht, wo mir etwas wohl tut und wo ich hinterher wie Gott sagen kann: "Heh! Das war wirklich gut."

Datum: 21.05.2002
Autor: Albrecht Gralle
Quelle: Impuls

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service