Meinungsfreiheit von Kindern

«Unkonventionelle theologische Aussagen von Kindern dürfen wahr sein»

Kinder stellen Fragen, Jugendliche hinterfragen. Wie man damit umgeht, wenn es die Religion betrifft, weiss der Religionspädagoge, Theologe und Vater Daniel Ritter.
Mutter mit Kindern
Daniel Ritter

Jedes Kind ist eine Theologin, ein Theologe...
Daniel Ritter:
Kinder haben auf jeden Fall zum Teil unglaublich spannende Einsichten. Es hat mich überrascht, wie viel ich als Theologe diesbezüglich von meinen eigenen Kindern lernen konnte. Meine Tochter kam beispielsweise durch ihre eigene Frage, ob Gott im Himmel der Chef sei, grad selber auf eine unkonventionelle Antwort.  

Nämlich?
Dass vielleicht alle ein bisschen der Chef seien. Solche un-konventionellen Antworten dürfen wahr sein.  

Und wie gehen wir mit den sogenannt «grossen» Kinderfragen um, wie zum Beispiel: «Ist Gott böse?»
Bei solchen Fragen ist es wichtig nachzufragen: «Wie meinst du das genau?» Oder auch: «Wie kommst du darauf?» Erst dann kann ich verstehen, was wohl hinter dieser Frage steckt. Meistens liegt so einer Frage eine Erfahrung zugrunde – oder das Kind hat sich durch gewisse Beobachtungen diese Gedanken gemacht. Erst wenn ich das weiss, kann ich in einem zweiten Schritt antworten.  

Wie?
Indem ich ihm sage, wie ich es sehe, was meine Überzeugung ist und weshalb. Ich probiere, universelle Antworten zu vermeiden. 

Das heisst?
Ich vermeide es, so zu antworten: «Das darfst du nicht sagen» oder «Gott ist sicher nicht so». Mir ist es wichtig, dass Kinder einen Freiraum erleben, in dem sie ihren Glauben selber entwickeln können. Niemand kann einem anderen Menschen sagen, wie oder was er zu glauben hat. Jeder hat die Aufgabe, sich selber zu positionieren.  

Wie kann man gerade Jugendliche dabei unterstützen? Oder anders gesagt, wie geht man mit den eigenen Teenagern um, die den Glauben der Eltern kritisieren?
Es hilft, sich bewusst zu sein, dass sich die meisten Jugendlichen von Autoritäten abgrenzen, um sich selber zu positionieren. Man sollte darum nicht in die Falle tappen, solche Kritik persönlich zu nehmen. Sondern mit Gelassenheit dem Jugendlichen sagen, dass einem die Religion – so, wie man sie auslebt – wichtig ist und einen fürs Leben stärkt. Oft folgt nämlich nach einer Zeit der Abgrenzung oder auch der Abwendung vom Glauben wieder eine Zuwendung.

Und wie können Eltern reagieren, wenn die Teenager in dieser Abgrenzungsphase partout nicht in den Gottesdienst mitkommen wollen?
Auch hier: Rein rational gehört das zum Alter. Ich kann ihnen beispielsweise sagen, dass ich selber gerne in den Gottesdienst gehe und sie mitkommen können. Ein Angebot machen, immer wieder. Mehr würde ich nicht tun. Religion ist normal und wichtig – aber mit einem gesunden Umgang.  

Zum Beispiel?
Wenn das Kind den Wunsch äussert, nicht mehr beten zu wollen, frage ich es, was es denn anstelle von beten tun möchte. Vielleicht entsteht dadurch ein echter Dialog, so dass etwas Neues gefunden wird. Das kann ein anderes Ritual sein, das einem zeigt, dass es etwas gibt, das über uns hinausgeht. Vieles ist beten: zum Beispiel ein Lied singen oder die Schöpfung wertschätzen, indem man eine Schnecke beobachtet.

Wie findet man eine Lösung, wenn das eine Kind beten will, das Geschwisterkind aber nicht?
Die Kinder sollen merken, dass der Glaube zwar wichtig ist, aber man normal damit umgeht. Ein Kind will ans Wasser, das andere in den Wald gehen. Die Lösung ist, abzuwechseln. Das eine Kind will beten, das andere singen? Auch hier kann man abwechseln. Denn Religion ist etwas, das frei macht, stärkt und Glück schafft.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin INSIST.

Zum Thema:
Marc Jost zu Meinungsfreiheit: Ein Freiheitsrecht im Dienst von Wahrheit und Gerechtigkeit
Marsch fürs Läbe, Corona, Klima: Livenet-Talk zur Meinungsfreiheit mit Juso-Präsidentin
Fragekultur: Glauben wie ein Kind – wie geht das?

Datum: 19.10.2020
Autor: Martina Seger-Bertschi
Quelle: Magazin INSIST

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