Beste Gewaltprävention

Jugendtreff «Gutschick» erreicht 20 Nationen

Winterthur war in den Schlagzeilen, weil vier Jugendliche in den Dschihad nach Syrien zogen. Die Eulachstadt kennt aber auch eine aussergewöhnliche Jugendarbeit, die Jugendliche aus Problemquartieren betreut.
Offene Jugendarbeit Winterthur
Sämi Müller
Die Jugendarbeit bietet den Kindern auch ein Frühstück an.
Monika Bosshard
Mädchen vom Jugendtreff Gutschick in Winterthur

Der Jugendtreff Gutschick im Grüze-Quartier hat es in sich: Er entstand aus einer Zusammenarbeit der Chrischona Gemeinde «Chile Grüze» mit der katholischen Pfarrei «Herz Jesu». Die Offene Jugendarbeit wird zudem von der Stadt Winterthur mitgetragen. Ein Modell mit Zukunftscharakter?

Chile Grüze und die Moschee

Um 2002 legte die Chrischona in Winterthur drei Gemeinden zusammen und baute das Zentrum Grüze, in welchem unter anderem auch der Bibellesebund Räume bezog. Das Zentrum wurde 2008 eingeweiht – direkt neben der Moschee des albanischen Kulturvereins. Gemeindeleiter Christoph Candrian wurde bald klar, dass er nicht einfach mit seiner Gemeinde an der Moschee vorbeileben wollte und nahm Kontakt mit dem Vereinsvorstand und dem Imam auf. Man lud sich in der Folge gegenseitig ein und führte sogar gemeinsame Veranstaltungen durch – bis heute. Dabei erkannten beide Seiten, dass es im Quartier ein Defizit an Angeboten für die vornehmlich muslimischen Jugendlichen gab.

2010 stellte die Gemeinde ihren Jugendarbeiter Sämi Müller an, der bald erkannte, dass im Quartier mit Jugendlichen etwas geschehen musste. Denn hier lebt zum Beispiel der grösste Anteil von Türken in einem Winterthurer Quartier. «Wir wollten das Quartier kennenlernen und auch sehen, wo es Hilfe braucht.» Dabei lernte Müller auch die Jugendarbeit der Katholiken kennen, und die Idee einer Zusammenarbeit kam auf.

Szenenwechsel. Drei Jahre zuvor, im März 2007, hatte die katholische Pfarrei Herz Jesu im benachbarten Mattenbach-Quartier erste Schritte für eine offene Jugendarbeit unternommen. Die von der Katholischen Kirchgemeinde angestellte Jugendarbeiterin Monika Bosshard lud die Jugendlichen im Quartier für einen offenen Treff ein – und 127 Kinder kamen. Für Bosshard ein Signal von oben, dass eine neue Herausforderung vor der Tür stand. Die Kirchgemeinde und die Pfarrei sowie die Stadt Winterthur unterstützten in der Folge ihre Jugendarbeiterin, die auch ausländische Jugendliche und Erwachsene für die Mitarbeit fand, zum Beispiel einen Mazedonier und eine Bosnierin. Weitere Freiwillige meldeten sich aus dem Harvest Network in Winterthur, einer christlichen Bewegung in Winterthur-Sennhof. So entstand der Jugendtreff Gutschick.

Ein neues Netzwerk für einen «Riesenbrocken»

Der Zufall wollte es dann, dass der Prediger der Chile Grüze, Christoph Candrian, fast Tür an Tür mit dem Präsidenten der Pfarrei Herz Jesu wohnte. Die beiden kamen in Kontakt und verstanden sich gut. Sie entschlossen sich, gemeinsam die Jugend- und Quartierarbeit zu unterstützen und zu fördern. In einem World Café wurden Ideen ausgetauscht und zu einer Projektidee verdichtet. Es entstand ein Netzwerk, in das nebst der Herz Jesu Kirche auch die Stadt einbezogen werden konnte. Sämi Müller wurde von der Chile Grüze teilzeitlich für die Arbeit im Quartier freigestellt. Er betont, dass die Arbeit für das Quartier geleistet wird, ohne dass ein Rückfluss in Form von neuen Gottesdienstbesuchern erwartet wird. Müller: «Es ist ein Riesenbrocken, der ein gutes Miteinander und ein funktionierendes Netzwerk erfordert!»

Der Treff läuft heute unter dem Namen «Kinder- und Jugendtreff Gutschick» und bietet über 200 Kindern und Jugendlichen aus dem Quartier einen Treffpunkt an. 2014 wurden Vereinsstrukturen aufgebaut und ein Trägerverein gegründet. «Die meisten offenen Jugendtreffs werden in Winterthur von Kirchen durchgeführt und von der Stadt unterstützt. Sie sind auch untereinander und mit dem Sozialdepartement der Stadt vernetzt. Die katholische Kirchgemeinde übernimmt die Anstellungen im Jugendtreff Gutschick, die heute rund 225 Prozent umfassen. Ebenso viel Arbeit wird von Freiwilligen geleistet. Dazu gehört auch eine – von der katholischen Kirchgemeinde angestellte - muslimische Mitarbeiterin mit guten Deutsch-, Arabisch- und Französischkenntnissen, die besonders im Kontakt mit Frauen und Müttern einen wertvollen Dienst leistet. «Hier entsteht auch ein Vertrauenspotential, das die zukünftige Arbeit befruchtet», ist Monika Bosshard überzeugt. Die Akzeptanz zwischen den Religionen werde so gefördert.

Keine Angst vor Katholiken?

Zu Beginn gab es in der Chile Grüze auch einige psychologische Hürden zu überwinden, vor allem auch traditionelle Ängste vor den Katholiken. Heute sind diese Ängste praktisch verschwunden. Die Einsicht hat sich breit gemacht, dass es um eine Herausforderung geht, die nur gemeinsam getragen werden kann, betont Müller. Dazu werden die Gemeinsamkeiten unter Christen unterstrichen. Umgekehrt seien bei den Katholiken Ängste vor Freikirchlichen kaum präsent, sagt Monika Bosshard. Etliche Jugendliche besuchten den Unterricht der Kirche, liessen sich firmen – und besuchten daneben Angebote von Freikirchen. «Sie suchen sich Orte, wo sie sich daheim fühlen.» Die katholische Kirche habe ausserdem einen besonderen Zugang zu Ausländern, weil viele ihrer Mitglieder aus dem Ausland hierherzogen. «In unserem Sonntags-Gottesdienst sind alle Kulturen vorhanden – eine echte Herausforderung. Bei den Reformierten trifft sich vorwiegend die Schweizer Mittel- und Oberschicht».

Im Jugendtreff Gutschick werden vor allem italienische und muslimische Kinder aus rund 20 Nationen erreicht. Obwohl vorerst für ältere Jugendliche geplant, wurde sie bald zu einer Kinder- und Jugendarbeit. «Die älteren Jugendlichen bringen ihre jüngeren Geschwister mit», sagt Sämi Müller. «Viele müssen für ihre jüngeren Geschwister sorgen», so Monika Bosshard. «Und sie erziehen sie mit.»

Gastfreundschaft pflegen

Im Jugendtreff geschieht vor allem Gastfreundschaft. «Man ist für die Jugendlichen da. Sie können auch gratis essen», so Bosshard. Es gibt kein Eintrittsgeld. «Wir wollen den Kindern und Jugendlichen Ansprechpersonen bieten», so Müller. Es brauche gar nicht viel Animation. Die Meisten finden Beschäftigungsmöglichkeiten und organisieren sich selbst. Das geht vom Versteckspiel bis zum Basteln bei den Mädchen. «Sie suchen hier etwas, mit dem sie sich reiben und an dem sie sich orientieren können», ist Sämi Müller überzeugt.

Der Treff hat von Montag bis Freitag geöffnet. Es beginnt schon am Morgen mit einem Gratis-Frühstück für Schüler aus dem Quartier. Das Angebot entstand aus der Erfahrung heraus, dass viele dieser Kinder müde und hungrig in der Schule erschienen und auch vieles zu verarbeiten haben. Ein freiwilliger Mitarbeiter mit Team aus der Chrischona leitet dieses Angebot und bereitet das Frühstück unentgeltlich zu. Dabei entstehen Kontakte mit den Eltern und ihren Sorgen. Es gibt einen Bubentreff, einen Mädchentreff, einen offenen Treff für alle sowie Aufgabenhilfe. Mitarbeitende begleiten Eltern bei Behördenbesuchen oder im Spital.

«Heiss wird es, wenn die Briefe vom Migrationsamt kommen», weiss Monika Bosshard. Dann ist Beratung sehr willkommen. «Bei der Administration unterstützt uns der Vorstand, sodass ich mehr Zeit habe, Familien zu besuchen», so die Jugendarbeiterin. Wenn Probleme wie häusliche Gewalt auftauchen, vernetzt sie Betroffene mit Fachstellen der Stadt. «Heute werden wir auch fachlich von der Stadt ernst genommen», bemerkt sie nebenbei. Allerdings musste man der Stadt zusichern, die Jugendlichen «nicht zu vereinnahmen».

Erstes Familiencamp

Erstmals konnte auf Initiative von Sämi Müller und Monika Bosshard ein Familiencamp mit 36 Leuten, insbesondere Mütter mit Kindern, aus dem Quartier organisiert werden, finanziert von Spenden. Gerne würde Müller auch die Männer noch besser erreichen und einen Treffpunkt für sie aufbauen. Ein erstes Treffen mit Vätern aus dem Quartier soll im Januar 2016 stattfinden. «Wir leisten Integrationshilfe vor allem im Bau von Brücken zwischen Kulturen und Religionen, Migranten, Behörden, Schulen und der Quartierbevölkerung», betont der Diakon. Und: «Wir müssen unsere Überzeugung nicht verstecken.»

Monika Bosshard, 58, ist Leiterin des Kinder- und Jugendtreffs Gutschick. Die ausgebildete Klavierlehrerin, Katechetin und Jugendarbeiterin arbeitet zu 80% für die Pfarrei „Herz Jesu“, davon mit 60% für die offene Jugendarbeit.

Sämi Müller, 34, ist stv. Leiter des Kinder- und Jugendtreffs Gutschick. Der ausgebildete Metallbauer schloss eine theologische Ausbildung mit einem Bachelor in Art of Theology ab und arbeitet als Pastor und Jugendarbeiter für die Chile Grüze, davon 25 % für Gutschick.

Videoporträt vom Jugentreff Gutschick:
 

Zur Webseite:
Jugentreff Gutschick
Offene Jugenarbeit Winterthur

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Datum: 10.12.2015
Autor: Fritz Imhof
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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