Orthodoxe Eiferer: Ein Saudi- statt Sowjetrussland

Jurij Samodurow bei der Eröffnung der Ausstellung.
Die Kathedrale auf dem Roten Platz.

An den Osterfeiertagen füllten sich in Moskau und anderen russischen Städten die Kirchen zur Auferstehungsliturgie. Wer sich aber für einen besonders eifrigen orthodoxen Russen hielt, schob Wache vor dem Sacharow-Museum in Moskau, um alle Besucher von dessen Ausstellung "Verbotene Kunst" abzublocken.

Das Museum verwaltet seit vier Jahren den Nachlass des Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow und wirkt in seinem Geist für die Menschen- und Bürgerrechte im postkommunistischen Russland. So mit der österlichen Ausstellung "Verbotene Kunst": Diese wollte 20 Gemälde zeigen, deren öffentliche Zurschaustellung im letzten Jahr nicht gestattet worden war. Teils wegen Selbstzensur der Kuratoren, die sich von der orthodoxen Kirche unter Druck gesetzt sahen, oder überhaupt auf Weisung von oben – was im heutigen Russland die Umgebung von Präsident Putin bedeutet. Unter den Bildern eine Mickey-Mouse in Christuspose.

Wie die wahhabitischen Eiferer von Saudi-Arabien

Jetzt sollten die 2006 verbotenen Werke den Beitrag des Museums zur Zweiten Internationalen Kunstbiennale in Moskau darstellen. Militante Orthodoxe belagern jedoch das Gebäude und verhindern den Zutritt. Museums-Direktor Jurij Samodurow spricht von einem religiösen Fanatismus, der zunehmend alle Errungenschaften der ersten Jahre nach der Wende unterlaufe.

In Moskau sei man auf dem schlechtesten Weg, das einstige Sowjetrussland durch ein Saudi-Russland zu ersetzen. Die Unduldsamkeit der heute wieder zu 80 Prozent gläubig orthodoxen Russen könne nur mit der der wahhabitischen Eiferer von Saudi-Arabien verglichen werden.

Direktor Samodurow weiss, wovon er spricht, und das aus eigener, bitterer Erfahrung: 2003 war das Sacharow-Museum kaum eröffnet, als es von wütenden Neu-Orthodoxen verwüstet wurde. Ihren Zorn hatte die damalige Ausstellung von pseudoreligiösem Kitsch unter dem Motto "Vorsicht, Religion!" erregt.

Das Gericht sprach damals die Wüteriche in Anerkennung ihrer "berechtigten Empörung" frei und verurteilte Samodurow wegen Anstiftung zum Hass auf alles Religiöse und Blasphemie zu einer hohen Geldstrafe. Auch heute will das Moskauer Patriarchat gegen die neue Ausstellung gerichtlich vorgehen. Sein Sprecher ruft die Gläubigen zu Anzeigen gegen das Sacharow-Museum auf, um diesem mit einer Sammelklage zu Leib zu rücken.

Eine religionspsychologische Regression

Das traurige Beispiel von Kunstausstellungen, die belagert, gestürmt und obendrein gerichtlich verurteilt werden, steht leider nicht allein: Private Radiosender müssen schliessen, ein enges Netz von Zensur jeder Art wird vorbereitet, zwei liberalere Bischöfe sehen sich von Absetzung bedroht.

In den Augen des Historikers Andrej Jerofejew stellt dieses Phänomen des "Russowahhabismus" eine religionspsychologische Regression dar. Russlands Männer und Frauen von der Strasse mit ihren Hunger-Renten oder ohne Arbeit, hilflos in einer neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die einige wendige Windhunde stets reicher, das eher schwerfällige russische Volk hingegen immer nur ärmer macht, suchen seelisch Rückhalt im Heimweh nach guten, alten Zeiten.

Mit Putin als Symbolfigur

Waren die Jahre zwischen 1995 und etwa 2002 von einer regelrechten Kommunismusnostalgie bestimmt, so wird heute die noch fernere Vergangenheit des zarischen Russland mit seiner orthodoxen Religiosität, aber auch Unfreiheit, Unduldsamkeit und Zensur zurückersehnt. Der Schon-Fast-Zar Putin wird Symbolfigur für das alles.

Datum: 12.04.2007
Autor: Heinz Gstrein
Quelle: Kipa

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