Die neuen Hebräer: Das deutsche Judentum gibt es nicht mehr

In der Synagoge einer deutschen Stadt.
Rabbiner Leo Baeck
Deutschunterricht für Zuwanderer in der Jüdischen Gemeinde Duisburg

Der Traum von einer Renaissance des deutschen Judentums ist ausgeträumt. Wenn es sie denn nach der Schoa aus den „Resten der Geretteten“ überhaupt wieder gegeben haben sollte. Wer geglaubt hat, durch die jüdische Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion werde es zu einer Erneuerung des deutschen Judentums kommen, so wie es vor dem Zweiten Weltkrieg existiert hat, dürfte inzwischen eines Besseren belehrt worden sein. Schleichend haben sich die jüdischen Gemeinden in Deutschland mit ihren heute knapp 100.000 Mitgliedern strukturell verändert.

Nach dem Ende der Hitler-Diktatur waren Männer wie Rabbiner Leo Baeck fest davon überzeugt, dass „die Epoche der Juden in Deutschland ein für allemal vorbei“ sei. Er sprach damit aus, was die meisten Überlebenden ahnten, sich aber nicht eingestehen wollten. Viele von ihnen hatten sich in einer Art virtueller Heimat eingerichtet, die in Wirklichkeit aber nicht mehr existierte.

Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich die Lage radikal verändert. Jährlich sind 15.000 bis 20.000 jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion mit ihren Familien ins vereinte Deutschland gekommen. Als Folge dessen haben sich die Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden mehr als verdreifacht. Längst bilden diese Zuwanderer die grosse Mehrheit der Gemeindemitglieder. Ein neues, ein anderes Judentum in Deutschland wird in Konturen am Horizont sichtbar.

Mit der 1991 getroffenen Kontingentflüchtlingsregelung ist ein entscheidender Schritt getan worden, um jüdischem Leben in Deutschland eine dauerhaftere Perspektive einzuräumen. Die Zeit der „gepackten Koffer“, wie es lange Zeit hiess, um das Bleiben in Deutschland zu rechtfertigen, scheint endgültig vorbei zu sein. Ob die Politologin Diana Pinto allerdings mit ihrer These recht behalten wird, dass sich mit dem russisch-jüdischen Zuzug nach Deutschland ein „jüdisches Europa in ganz neuer kultureller und historischer Dimension entwickeln“ könnte, wird sich erst noch in der Praxis erweisen müssen.

Fest steht jedenfalls: Die jüdischen Gemeinden im vereinten Deutschland durchlaufen seit dem Zuzug russischer Juden einen radikalen Umformungsprozess, der das Gemeindeleben von Berlin bis Köln und von Hamburg bis München stark verändert. Die „Neuen“ sind in den Gemeinden zwar zahlenmässig deutlich in der Mehrheit. Mit dem, was sie dort vorfinden, können sie allerdings wenig anfangen. Folglich gestalten sie das Gemeindeleben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen. Dabei sehen sie keinen Anlass, sich im Umgang mit alteingesessenen Gemeindemitgliedern allzusehr zu arrangieren, beispielsweise in der Frage, welche Sprache in der Gemeinde gesprochen werden soll – Deutsch oder Russisch.

Trotz aller Spannungen und Konflikte zwischen „Alteingesessenen“ und „Neumitgliedern“: Tatsache ist, dass das Ziel erreicht wurde, das einst als Argument bei der Verabschiedung der Kontingent-Flüchtlingsregelung als Grundlage diente: Die Absicht, durch die Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten das demographische Überleben der Gemeinden in Deutschland zu sichern. Die jüdische Gemeinschaft hier- zulande ist mittlerweile, prozentual betrachtet, die schnellstwachsende jüdische Gemeinschaft der Welt – noch vor Israel und den Vereinigten Staaten.

Allerdings hat die zunehmende Dominanz der russisch-jüdischen Zuwanderer auch ihren Preis. Die Alteingesessenen, also die Reste des deutschen Judentums, die DPs und ihre Nachkommen sowie jene Israelis, die sich vor 1989 in Deutschland niedergelassen haben, spüren, dass etwas unwiderruflich zu Ende geht. Sie ahnen, dass die Welt des deutschsprachigen und deutsch geprägten Judentums endgültig im Verschwinden begriffen ist.

In den Gemeinden geben heute die ehemaligen Bürger der Sowjetunion zunehmend den Ton an. Sie schätzen, um den Orientierungswandel anschaulich zu machen, verständlicherweise Schriftsteller wie Dostojewski, Turgenjew und Gogol, können hingegen mit Schiller und Goethe vielleicht noch etwas, aber mit Börne und Heine kaum noch etwas anfangen.

Diese Entwicklung, man mag sie begrüssen oder bedauern, schliesst nicht aus, dass künftig doch wieder so etwas wie ein neues deutsches Judentum entsteht. Welche Gestalt dieses Judentum allerdings haben wird, kann heute niemand vorhersagen. Fest steht nur, dass es seine geistig-kulturellen Wurzeln nicht in Deutschland, sondern in Osteuropa haben wird. Vom deutschen Judentum vor 1933 unterscheidet es sich in wesentlichen Belangen, vor allem, was die Bindungen zu Deutschland angeht. Das bedeutet aber nicht, dass dieses sich neu formierende Judentum keinerlei Elemente eines deutsch-jüdischen Vermächtnisses integrieren kann.

Autor: Julius H. Schoeps ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums.
Quelle: Jüdische Allgemeine

Datum: 22.08.2005

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service